Target 5
Licht wurde immer diffuser. Winthrop behielt seinen langsamen, lässigen Schritt bei. Das dritte Detail war ein Knopf, ein einzelner weißer Knopf oben am Mantel, während die anderen Knöpfe dunkel sein sollten. Verdammt, dies Kennzeichen konnte er überhaupt nicht ausmachen. Ein Milizsoldat – ein Polizist – kam von der gegenüberliegenden Seite her in den Park und folgte den Fußstapfen des Seemanns.
Winthrop blieb das Herz stehen, aber er behielt das Tempo bei. Er war eingetroffen – der unvorhergesehene Faktor, der alles ruinieren und den Kontakt unmöglich machen konnte. Ein weiterer beängstigender Zustand spannte Winthrops Nerven – folgte der Polizist Gorow? Das war unwahrscheinlich, es wäre zu auffällig gewesen. Reiß dich zusammen, Mann! Helsinki, Finnland – Sicherheit – liegt nur hundertfünfzig Kilometer entfernt. Aber dieser Gedanke beruhigte Harvey Winthrop keineswegs, als er dem Seemann immer näher kam: Er könnte genausogut in Kiew sein, im Herzen der Ukraine, von wo Gorow gerade – nach dem Treffen mit seinem Bruder Michael – gekommen war.
Es wurde zusehends dunkler. Der Matrose kam näher, der Polizist im dunkelblauen Mantel in gleichbleibendem Abstand von fünfzig Metern hinter ihm. War auch das ein Zufall – daß der Polizist genau dasselbe Tempo beibehielt wie Peter Gorow? Falls es Gorow war – Winthrop konnte immer noch nicht den Knopf entdecken. Er sah zwar das rote Band an der Mütze des Polizisten, aber nicht Gorows verdammten Knopf. Der Seemann, der jünger als dreißig zu sein schien, blickte geradeaus. Winthrop bildete sich ein, zu sehen, wie sich seine Kiefermuskeln verkrampften. Der arme Teufel schien in einer Zerreißprobe zu stecken. Für eine derartige Spannung war er nicht geschult. Dann bemerkte Winthrop plötzlich den helleren Knopf oben am Mantel.
Vor der Lenin-Statue rutschte Winthrop auf dem Eis aus – in einem Augenblick, als der Seemann nur noch ein paar Meter von ihm entfernt und der Polizist immer noch fünfzig Meter hinter ihm war. Als der Amerikaner ausglitt, war der farbige Katalog auf den Boden gefallen. Die Abbildung eines Rubens-Gemäldes hob sich vom Schnee ab wie ein Blutfleck. Der Katalog war sein Erkennungszeichen. Wie selbstverständlich blieb der Seemann stehen, während Winthrop versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, und sagte eilig und leise etwas auf russisch.
»Er kommt am 20. Februar – zu dem amerikanischen Stützpunkt Target Nummer 5 – 20. Februar…« Er wiederholte das Datum noch leiser, und Winthrop spürte, daß zwei Dinge den Seemann furchtbar ängstigten – daß der Amerikaner das lebenswichtige Datum nicht gehört haben könnte, wohl aber der Polizist.
Winthrop war wieder auf den Beinen und klopfte den Schnee von seinem Mantel. Der Matrose zuckte mit den Schultern, als wäre es alltäglich, daß Leute bei diesem Wetter ausgleiten, und setzte seinen Weg durch den Park in Richtung Newski-Prospekt und zu den Docks fort. Winthrop hob den Katalog auf und versuchte zu gehen, hinkte aber stark. Er lehnte sich an das Gitter, das die Statue umgab. Der Polizist erreichte Winthrop und fragte: »Können Sie gehen? Haben Sie weit zu gehen?«
»Schon gut. Ich glaube, ich habe mein Fußgelenk verstaucht, aber es geht schon.« Winthrop hatte vorsichtshalber auf englisch geantwortet – niemand außer Gorow, der schon außerhalb des Parks war, wußte, daß er Russisch sprach. Der Polizist starrte ihn verständnislos an, während Winthrop qualvoll lächelte.
Er hatte sich tatsächlich das Fußgelenk verstaucht.
»Ich wohne im Europa-Hotel«, fuhr er fort, bemüht, den Mann loszuwerden. Er winkte ab. »Es ist nicht weit.« Er lächelte wieder und ging dann denselben Weg, den er gekommen war, wieder zurück.
Winthrop humpelte von Schmerzen gequält durch den Park, jetzt wirklich besorgt, daß er fallen könnte. Er mußte es einfach bis zum Hotel schaffen. Trotz der Schmerzen arbeitete es fieberhaft im Gehirn des Amerikaners. Vielleicht konnte der verstauchte Knöchel ihm als Vorwand dienen, aus Rußland herauszukommen.
Winthrop sollte am übernächsten Tag, einem Sonntag, mit einem frühen Flug nach Helsinki zurückkehren. Aber das war der Tag, an dem Michael Gorow schon nach Target 5 aufbrechen würde. Den sowjetischen Behörden war sein Abreisetermin bekannt, und sie wußten, daß er sich in Leningrad aufhielt, um in seiner Eigenschaft als Kunstkritiker die großartige Sammlung von Rubens-Gemälden in der Eremitage zu besichtigen.
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