Tarzan am Main
stillt den Hunger, jedenfalls für eine Weile. Am späteren Nachmittag lud ich Ingeborg zu einem Ausflug in die Innenstadt ein. Ich will dir etwas zeigen, sagte ich. Ingeborg wollte wissen was, ich sagte es ihr nicht.
Ich führte sie in die Kaufhäuser beziehungsweise zu den Fahrstühlen, die es dort gab. In fast allen Fahrstühlen arbeiteten damals bein- oder armamputierte Männer als Fahrstuhlführer. Wenn ihnen ein Bein fehlte, lehnten sie in einer Ecke der Fahrstuhlkabine und bedienten die Knöpfe. Männer, denen nur ein Arm oder eine Hand fehlte, hatten es leichter. Wenn wir die Fahrstühle wechselten, erklärte ich Ingeborg, dass die Männer ihre Körperteile im Krieg verloren hatten. Wir wollten einen Fahrstuhlführer fragen, aber dann trauten wir uns nicht. Während des Heimwegs erzählten wir uns, was wir machen würden, wenn uns im kommenden Krieg etwas abgeschossen würde. Ingeborg versprach, dass sie mich sofort mit ihrem Taschentuch verbinden würde. Ich versprach, dass ich sie auf die Arme nehmen und ins nächste Krankenhaus tragen würde. Wir waren der Meinung, dass man trotz eines fehlenden Beins oder Arms sehr gut weiterleben konnte. Kurz vor der Heimkehr hatten wir Hunger. Wir setzten uns auf ein Gartenmäuerchen und leckten unsere Arme. Wieder hatte uns niemand vom Krieg erzählt, aber wir hatten seinen Geschmack im Mund.
Ich bin schon wieder bei den Feierabendpredigern. Der Beginn ihres Auftritts ist wieder ein gemeinsames Lied, danach noch eines. Was sie singen, ist immer dasselbe: Jesus wird uns retten. Es sind Männer und Frauen, junge und alte, müde Gesichter. Auch die Erweckten arbeiten den Tag über, und man merkt ihnen an, dass sie ein Opfer bringen wollen. Das Opfer ist bitter. Es bleibt kein Mensch stehen und hört sich an, dass wir nur dann weiterleben können, wenn sich der himmlische Retter unserer erbarmt. Der einzige, der in einiger Entfernung stehen bleibt, bin ich. Ich bleibe stehen, weil ich kaum fassen will, wie eine Handvoll Menschen seit über dreißig Jahren einer so aussichtslosen Übung treu bleiben kann. Die Hauptstütze der Gruppe ist eine Frau, die damals, vor dreißig Jahren, ein junges Mädchen war und schon damals das Menschengeschick zum Guten hin wenden wollte. Damals trug sie das Haar offen und sang mit schafsähnlicher Treue von einem besseren Leben. Heute ist die Frau zwischen 60 und 70 Jahre alt, ihr Haar ist grau und am Hinterkopf zu einer runden Glaubenszwiebel zusammengebunden. Ich glaube nicht, dass sie sich meiner erinnert. Allerdings schaut sie mich nicht an. Sie schaut, wenn sie singt, nach oben, wo der Segen herkommen muss, wenn er kommt. Nach der Frau treten die eigentlichen Helden der Gruppe auf. Es sind Männer in mittleren Jahren, die sich erst vor kurzem zu einem christlichen Leben haben bekehren lassen. Vorher waren sie Alkoholiker, Nichtsnutze, Ehebrecher, Faulpelze und Grobiane, die ihre Frauen und Kinder geschlagen haben und das heute öffentlich bereuen. Das Problem ist: Die Männer können nicht predigen, viele können nicht einmal richtig sprechen. Aber sie halten sich, seit sie Jesus Christus kennen, für Erleuchtete (das sagen sie wirklich), und deswegen nehmen sie an, ihre Rede ist die Rede von Jesus in der Wüste. Ich staune die Talentlosigkeit dieser Leute an und unterhalte mich dabei. Oft bleibe ich bis zum Ende der Darbietung der einzige, der schaut und hört. Die Prediger werden von einem manchmal sichtbaren Schauer überwältigt. An der Erregung ihrer Mienen ist zu sehen, was sie vor allem sagen wollen: Gib dir endlich einen Ruck.
Ich will weder etwas kaufen noch etwas verkaufen. Ich will nur verschwundene Gegenstände plötzlich wieder auftauchen sehen. Erst vor kurzem habe ich ein Teil wiederentdeckt, das vor etwa sechzig Jahren der letzte Schrei von jungen Frauen war: eine Krokohandtasche. Damals, als meine Schwester ein Teenager war, war eine Krokohandtasche der Beginn des Frauenlebens. Natürlich musste die Tasche echt sein. Auch die Krokotaschen ihrer Freundinnen waren aus echtem Krokoleder. Heute liegen die gleichen Krokotaschen achtlos auf den Tischen der Flohmarkthändler. Sie sind billig, aber kaum jemand will sie haben. Denn heute sind wir Naturschützer geworden, und die meisten von uns haben im Fernsehen die grausame Prozedur mitangesehen, wenn ein Krokodil im afrikanischen Busch mit einem harten Stahlnetz eingefangen und dann »verwertet« wird. Andere Dinge aus früheren Zeiten haben noch geringere Chancen, wieder
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