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Tarzan am Main

Tarzan am Main

Titel: Tarzan am Main Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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übriggeblieben. Durch die leeren Fenster sah man den Himmel, auf den Fenstersimsen wuchs Gras, der Eingang war zugemauert. Zusammen mit Günter würde ich demnächst auf das Trümmergelände hinter dem Haus vordringen.
    Unterwegs sah ich zwei Jungen in meinem Alter, die neben einer Regenpfütze knieten. Als ich näher kam, sah ich, dass sie Ameisen fingen und sie dann in die Pfütze warfen. Sie hatten Vergnügen daran, die Ameisen gegen ihren Tod kämpfen zu sehen. Die kleinen Tiere waren kraftvoll und zäh. Keine einzige Ameise schien den Kampf gegen den Tod zu verlieren. Sie rackerten sich nah an den Rand der Pfütze heran und wurden sogar noch kräftiger, als sie Boden unter ihren Beinen spürten. Da griff einer der Jungen mit der Hand in die Pfütze, erfasste eine der nassen Ameisen und warf sie auf mich. Ich erschrak, obwohl die Ameise mich verfehlte. Schon griff der Junge nach der nächsten Ameise. Da erhob ich meinen Stock und hielt ihn drohend gegen ihn. Tatsächlich ließ er daraufhin das Tier in die Pfütze zurückfallen und sah mich erstaunt an.
    Ich ging wortlos weiter, wie Tarzan. Ich kam nach Hause wie ein Krieger. Der schlägt sich durch, sagte Vater und lachte anerkennend. Seine Bemerkung gefiel mir. Endlich fängt er an, vom zukünftigen Krieg zu erzählen, dachte ich. Aber ich hatte mich geirrt, er fing wieder nicht an. Es war schön, ein Kinderkrieger zu sein. Ich hatte keine Feinde und konnte mich in aller Ruhe auf den Krieg vorbereiten.
    Meine Mutter erzählte immer wieder die Geschichte von dem ersten Wort, das ich als Kind aussprach. Als ich noch sehr klein war, saß ich mit meinen Eltern immer wieder in unserem verdunkelten Wohnzimmer. Mutter hatte mich auf dem Schoß und hielt sich den rechten Zeigefinger auf den geschlossenen Mund. Der Finger auf den Lippen war das Zeichen, dass ich ebenfalls den Mund halten sollte. Vater saß mit uns im dunklen Wohnzimmer und sah auf den Boden, dann zu seiner Frau und mir und dann wieder auf den Boden. Von fern hörten wir das Näherkommen der Bomber. Sie warfen ihre Bomben auf unsere Stadt und flogen dann weiter. Bisher hatten wir Glück gehabt. Mutter sah mich an und lächelte im Halbdunkel und inmitten des näherkommenden Gedröhns. Es war wieder ein Kampfverband, das heißt mehrere Flugzeuge, vielleicht zehn oder zwanzig, die in einer geschlossenen Formation nebeneinander herflogen und auf ein Signal hin ihre Klappen öffneten. Da sagte ich zum ersten Mal das Wort Fanderband. Als die Flugzeuge weg waren und wir wieder einmal Glück gehabt hatten, knipste Vater das Licht an, Mutter hob mich in die Höhe und küsste mich mehrmals quer über das Gesicht. Aus Begeisterung benutzte sie selbst anstatt des Worts Kampfverband mein eigenes erstes Wort Fanderband. Sie war glücklich, dass ich ein so kompliziertes Wort aussprach, auch noch auf so originelle Weise falsch.
    Später, nach den Schulaufgaben, ging ich auf die Straße und suchte nach Ingeborg. Sie war so alt wie ich und interessierte sich für meine Fluchtpläne. Außer Marseille gab es noch eine andere Fluchtmöglichkeit. Man musste früh aufstehen und nach Hamburg kommen und von dort mit einem Schiff nach Australien. Ingeborg wusste nicht, wo Australien liegt, ich erklärte es ihr. Sie erzählte ihren Eltern kein Wort von unseren Absichten, was ich gut fand. Ingeborg war mir zugetan und wollte immerzu neue Einzelheiten über den Krieg und unsere Flucht hören. Ich wollte Ingeborg soweit bringen, dass sie bereit war, mit mir zu verschwinden. Bald fing sie ebenfalls an, vom Krieg zu sprechen. Vermutlich erzählte sie nur weiter, was sie zu Hause von ihren Eltern gehört hatte. Auch sie hatte, genau wie ich, ein Lieblingskriegswort: das Wort Haubitze. Ingeborg lachte jedesmal, wenn sie es aussprach. Erst viel später ging mir auf, dass sie einen Großvater gehabt haben musste, der ihr vom Ersten Weltkrieg erzählt hatte; denn im Zweiten wurde meines Wissens nicht mehr mit Haubitzen Krieg geführt.
    Zum Dank für ihre Erzählungen machte ich Ingeborg mit ein paar Überlebenstricks vertraut. Ich sagte ihr, dass sich den Tag über eine Menge Staub auf unseren nackten Unterarmen ansammelte. Wenn man starken Hunger empfindet und nichts zu essen hat, kurz: wenn man sich im Krieg befindet, kann man sich zur Not den Staub von den Unterarmen lecken. Man streckt die Zunge heraus, soweit es geht, und zieht mit der Zunge eine schmale Spur den Arm hinauf. Der Staub schmeckt silbrig und fremd, aber der Geschmack

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