Tarzan am Main
einmal als unentbehrlich empfunden zu werden, zum Beispiel Schminkkoffer. Eine Frau auf Stöckelschuhen, mit Krokotasche und Schminkkoffer: Das wäre heute fast eine Lachnummer. Auch die Herren hatten ihre schwachen Stellen; ich meine (zum Beispiel) Zigarettenspitzen, Schuhspanner und Krawattennadeln. In den fünfziger Jahren versprach man sich von Schuhspannern, dass sie die Schuhe in Form hielten oder erst wieder in Form brachten. Es sind zwei der Form der Schuhe angepasste Holzteile, die eine Stahlfeder miteinander verbindet. Auch diese Teile liegen auf dem Flohmarkt herum: fast geschenkt. Sonderbar ist allenfalls, dass uns ohne die Nachhilfe des Flohmarkts diese Gegenstände nicht wieder präsent werden könnten. Deswegen ist der Flohmarkt nicht nur eine Art Zeitbühne, sondern viel mehr noch ein Friedhof der toten Dinge.
Fünfzehn Meter weiter sehe ich eine Montur, die mich in der Kindheit über Jahre hin beschäftigt hat, obwohl sie mit meinem Leben nichts zu tun hatte: einen sogenannten Hüftgürtel, zuweilen auch Hüfthalter genannt. Das Wort Hüfthalter erinnert an das ebenso aufregende Wort Büstenhalter, und genau in dieser Kombination ist der Hüfthalter in die Welt meiner inneren Phantasietätigkeit eingetreten. Natürlich war es meine Mutter, die mir diese Bildwelten mehr oder weniger erschloss beziehungsweise verbarg. Ich war ungefähr zehn Jahre alt, als sie aufhörte, sich hinter der verschlossenen Badezimmertür anzuziehen. Der Hüftgürtel auf dem Flohmarkt umschließt die Hüften einer Puppe, und zwar genau so, dass man nicht auf den ersten Blick erkennt, wozu der Hüftgürtel genau gebraucht wird. In der Mitte der fünfziger Jahre war meine Mutter selbst ungefähr fünfzig Jahre alt geworden. Sie hatte drei Kinder zur Welt gebracht, von denen zwei, mein Bruder und ich, im Krieg und kurz danach geboren wurden. Jetzt war unsere Mutter sichtbar älter geworden (das sagte sie selbst) und gefiel sich nicht mehr. Natürlich glaubte sie – mit und ohne Krieg, mit und ohne Schwangerschaften –, zu dick geworden zu sein. Eines Tages kam sie vom Einkaufen zurück und packte eine rosafarbene, kastenförmige Textilie aus: ein Hüftgürtel. Das Teil war so fest gearbeitet, dass es ohne fremde Hilfe aufrecht auf dem Tisch stehen konnte. Mutter legte Kleid und Unterrock ab, stellte sich vor den Schlafzimmerspiegel und warf sich den Hüftgürtel um. Nach meinem Empfinden war das Bekleidungsstück zu eng. Natürlich verstand ich nicht, dass es zu eng sein musste. Die harte Umschalung hatte die Aufgabe, die Hüften zusammenzupressen, um den Körper schlanker erscheinen zu lassen. Diese Aufgabe hatten auch die reißverschlussartig untereinander angebrachten Haken und Ösen, die den Hüftgürtel auf der linken Körperseite zusammenschlossen. Erst jetzt wurde klar, warum ich der Ankleide-Aktion beiwohnen sollte. Denn meine Mutter hatte nicht die Kraft, den Hüftgürtel zusammenzuziehen und ungefähr zwanzig bis fünfundzwanzig Haken in die dafür vorgesehenen Ösen einzuschieben. Das war künftig meine Aufgabe. Abends, beim Ausziehen, half der Vater, aber morgens, wenn der Vater schon zur Arbeit gefahren war, war ich zuständig.
Ich kann mich heute nicht mehr erinnern, ob ich die Aufgabe sympathisch oder eher lästig fand. Eine Irritation ergab sich, als meine Mutter den Hüftgürtel eines Tages Straps nannte. Was sollte ein Straps sein? Das Wort hatte etwas derb Erotisches, allerdings fehlte dafür jegliche Anschaulichkeit. Ich fing an, hinter dem Wort eine verbotene Bedeutung zu suchen. Heute nehme ich an, dass das Wort mein erster Kontakt mit der Welt der Erotik war. Ein Hinweis dafür war, dass ich meine bestrapste Mutter gerne umarmte und dass sie gegen diese Umarmungen nicht einschritt. Ein zweiter Hinweis war, dass ich über das lächerliche Wort Straps nicht lachen musste. Über gleichzeitig auftauchende Wörter, zum Beispiel das Wort Büstenhalter, lachten ganze Schulklassen. Das Wort Straps löste nur Stummheit und Ernst aus: Dahinter musste sich so etwas Rätselvolles wie die Liebe verbergen. Noch heute, auf dem Flohmarkt, weht mich leichte Verlegenheit an, wenn ich einen realen Straps sehe. Dabei deutet die Verlegenheit nicht auf den Frauenkörper, sondern auf seine gar zu aufwendige Verhüllung. Die vielen wirklichen Frauen, die heute auf dem Flohmarkt umhergehen, tragen keinen Hüfthalter, viele von ihnen auch keinen BH und noch dazu sehr offene Blusen – und lösen keine Verlegenheit aus. Dahinter
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