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Tarzan am Main

Tarzan am Main

Titel: Tarzan am Main Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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sie mich überhaupt bemerkten. Denn ich saß fast reglos auf einem Stahlsitz nahe der Wand und betrachtete das Nachtleben der Mäuse. Sie hatten viel zu tun. Tatsächlich lagen entlang der Bahnsteigkante kleine Fleischstücke, Salatblätter, Gurkenscheiben, Brotreste, Zwiebelringe. Erst jetzt fiel mir auf, wieviel Speisereste hier herumlagen. Die Mäuse fraßen alles und zwar an Ort und Stelle. Nach etwa zwei Minuten betrat eine junge, gutaussehende Frau die U-Bahn-Station. Sie sah die Mäuse sofort und stieß einen kleinen hellen Entzückensschrei aus. Die Mäuse hörten den Schrei und liefen zurück in ihr Mauseloch, allerdings nur kurz. Nach einer halben Minute kamen sie wieder hervor und setzten die Suche fort. Die Frau hatte offenbar noch nie Mäuse gesehen. Sie hielt sich eine Hand vor den Mund und nahm drei Sitze neben mir Platz. Es waren jetzt vier Mäuse, eine zielstrebiger als die andere. Bis erneut das donnernde Geräusch einer Bahn hörbar wurde. Abermals huschten die Tiere in ihr Loch und warteten. Die Türen sprangen auf, vier Männer und eine Frau stiegen aus und unterhielten sich laut. Ich hatte eigentlich zusteigen wollen, aber noch eigentlicher wollte ich doch nicht. Die Frau neben mir sah mich an. Auch sie blieb sitzen, auch sie wartete, bis die Bahn abrauschte und die Mäuse in kurzer Zeit wieder erschienen.
    Genauso war es. Die Frau blitzte mit vergnügten Augen und hielt sich wieder die Hand vor den Mund, vermutlich, weil sie keine Geräusche machen wollte beim Lachen. Ich wusste immer noch nicht, ob ich mit der Frau reden wollte oder nicht, obwohl ich müde war und mich leergeredet fühlte. Da öffnete die Frau ihre Handtasche und holte ein Stück Schokolade heraus. Die Frau wickelte die Schokolade aus dem Staniolpapier.
    Sind Sie auch gespannt, ob die Mäuse Schokolade essen! ?
    Ich war nicht gespannt, jedenfalls nicht auf das Verhalten der Mäuse. Ich hatte nicht den geringsten Grund, mit einer Frau anzubendeln, unter den gegebenen Umständen schon gar nicht. Dennoch überlegte ich, ob ich nicht noch eine Bahn ohne mich ziehen lassen sollte. Die Frau brach drei Rippen Schokolade auseinander und warf sie in kleinen Stücken den Mäusen hin und leckte sich dann die Finger ab. Die Tiere kamen schnell herbei und knabberten die Schokoladenstücke weg. Die Frau lachte leise und brach erneut etwas Schokolade ab. Die Mäuse verhalten sich nicht nahrungssortiert, sagte die Frau; sie tun so, als würden sie seit langer Zeit jeden Tag Schokolade essen.
    Ich erschrak über die Geläufigkeitsintelligenz dieser Bemerkung und überlegte, ob ich sie trotzdem kommentieren sollte, aber mir fiel nichts Passendes ein.
    Die Mäuse fressen alles, was man ihnen hinwirft, wie moderne Menschen, sagte die Frau.
    Diesen Satz wollte ich bestimmt nicht kommentieren, ich wollte ihn nicht einmal gehört haben. Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass die Party, vor der ich gerade geflohen war, hier weiterging. Oder war die Frau auf der gleichen Party gewesen, und ich hatte sie nur nicht bemerkt? Da fuhr zum Glück die U-Bahn ein, ich stieg zu und bemerkte mit einer starken nächtlichen Erleichterung, dass die Frau zurückblieb und den Rest ihrer Schokolade an die Mäuse verfütterte.

Zum Glück hat Frankfurt bisher der Versuchung widerstanden, sich Literaturstadt zu nennen. Es gibt (oder gäbe) dafür ein paar deutliche Anreize. Immerhin lockt Jahr für Jahr die Buchmesse hunderttausende von Ausstellern und Besuchern in die Stadt. Verwenden ließe sich auch der Hinweis, dass der vermutlich bedeutendste deutsche Dichter ein Frankfurter war und hier seine Jugend verbrachte und außerdem ein heute noch oft gelesenes Werk über diese Jugend geschrieben hat. Merkwürdigerweise ist Frankfurt – trotz Goethe, trotz Adorno, trotz Schopenhauer, trotz Struwwelpeter – eine Stadt ohne literarischen Ruf geblieben. Für Frankfurt beruhigend muss man dazu sagen: Es gibt auf der ganzen Welt keine einzige Literaturstadt, obwohl es da und dort nicht an Versuchen mangelt, die eine oder andere Gloriole in die Welt zu setzen. In keinem einzigen Fall richten sich die Städte nach solchen Marketingansprüchen. Zum Beispiel ist die irische Hauptstadt Dublin stolz darauf, gleich drei weltberühmte Autoren (James Joyce, Samuel Beckett, Oscar Wilde) für ihre Heimatdichter halten zu dürfen. Aber Dublins Vitalität weist jeden musealen Anstrich energisch zurück. Auch in Lissabon regt sich dann und wann das Verlangen, sich die Schleife einer

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