Tarzan am Main
Literaturhauptstadt umbinden zu lassen, weil der kaum zu überschätzende Fernando Pessoa dort geboren wurde und viele Jahre lang in einem bedrückend belanglosen Büro gearbeitet hat. Ähnlich heftig bemüht sich das italienische Triest darum, noch heute davon zu profitieren, dass der grandios bescheidene Italo Svevo ein Sohn der Stadt war und seine Nachkommen noch heute dort leben. Wer Dublin, Lissabon oder Triest heute besucht, atmet erleichtert auf, dass diese Städte trotz aller Anstrengungen ihrem literarischen Ruhm entkommen sind. So ergeht es auch Frankfurt. Niemand spricht von Goethe, niemand von Adorno; alle sprechen von der Bankenstadt, der Autostadt, der Messestadt.
Erst viel später kam mir der Gedanke, dass unsere nächtlichen Herumtreibereien ein Versuch waren, in einer Art Boheme zu leben. Im Fremdwörterbuch steht unter dem Wort Boheme: »Unbürgerliche, unkonventionell lebende Künstlergesellschaft«. Genau darum handelt es sich – und auch wieder nicht. Die Redakteure wussten zum damaligen Zeitpunkt nicht, dass aus ihnen Künstler werden sollten. Nur von den Zeichnern und Malern, die in der Redaktion erschienen, ging ein starker Sog in Richtung Boheme aus. Sie wirkten wie Bojen; auch wer noch nicht Künstler war, merkte rasch, wohin die Lebensreise ging. Korrekterweise müsste es Halbboheme heißen, sofern es soetwas gibt. Halbboheme meint, dass wir nicht völlig ungebunden und ohne Rückhalt von der Hand in den Mund lebten. Tagsüber waren wir Angestellte mit festen Bürozeiten und ebenso festen, wenn auch zu niedrigen Gehältern. Der Chefredakteur erwartete von seinen Redakteuren, dass sie täglich Überstunden machten, und zwar ohne Murren und ohne finanzielle Kompensation. Die Halbboheme nach der Redaktionsarbeit war ein Versuch des Ausgleichs der oft unangenehm empfundenen Abhängigkeit. Es geschah öfter, dass die eine oder andere Ehefrau besorgt in der Redaktion erschien und nachschaute. Der unangemeldete Besuch der Ehefrau am Arbeitsplatz des Mannes ist ein delikates Kapitel. Der Besuch beschämte den Ehemann und warf ein Licht auf ängstliche Verhältnisse; manche Ehefrau mochte kaum glauben, dass ihr Mann tatsächlich nur Überstunden machte. Ich selbst war in gewisser Weise im Vorteil, weil meine Frau zweihundertfünfzig Kilometer entfernt wohnte und nicht die Absicht hatte, nach Frankfurt überzusiedeln. Die meisten Redakteure waren zuvor in anderen Städten zu Hause gewesen und bewohnten vorerst möblierte Zimmer oder kleine Appartments. In der Wohnung des einen und anderen befand sich ein Sofa, das für eine plötzlich notwendige Übernachtung bereit war. Die erste Zuflucht nach Feierabend war eine unansehnliche Bierstube in der Eckenheimer Landstraße. Sie hatte ein kleines Hinterzimmer, in dem sich außer uns niemand aufhielt. Es gab hier einen Flipper und einen Kicker und eine Musikbox. Der Wirt war ein kleiner, ängstlicher Ausländer, der seinen Gästen nicht traute. Abend für Abend kehrten bei ihm fünf bis sieben Leute ein, Männer und Frauen, spielten an den Geräten, tranken einige Biere und arbeiteten die Zumutungen des Redaktionsalltags auf. Noch vor einer Stunde waren wir schweigsam gekränkte Wiedergänger, aber jetzt hatten wir (im Spiel) unsere Innenwelten ausgewechselt beziehungsweise erneuert beziehungsweise überwunden. Für die nächsten drei bis fünf Stunden, manchmal fast die ganze Nacht, blieben wir zusammen, zogen weiter in andere Kneipen, redeten fast ununterbrochen über Journalismus und Literatur, Theater und Oper, Kleinbürgertum und neue linke Kultur. Wir redeten nicht darüber, dass wir vielleicht Teil einer neuen Boheme waren, die sich zwischen den Klassen in den Großstädten herausbildete. Einmal waren wir nahe dran, ein Chaostheater zu gründen. Zum Glück ist nichts draus geworden. Im Grunde waren wir vom Durcheinander unseres Alltags schon genug überfordert. Die Theoretiker der Alternativkultur sind sich einig darin, dass die Boheme keine selbständige soziale Schicht (oder Klasse) ist. Die Boheme gründet sich auf Leute aus dem Klein- oder Großbürgertum, die mit ihrer Herkunftsschicht unzufrieden sind, zu der sie allerdings auch oft wieder zurückkehren. Der Grund für diese Rückkehr ist, dass die soziale Zwiespältigkeit einer sich nirgendwo zugehörig fühlenden Schicht auf Dauer schwer erträglich ist. Ich erinnere mich, dass ich während meiner Jugend starkes Unbehagen vor dem Kleinbürgertum hatte; schließlich gehörte meine gesamte
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