Tarzan am Main
dass auch die neue große Stadt eine Provinzstadt ist. Dabei macht es Frankfurt seinen Bewohnern leicht, die Atmosphären von Weltstadt und Provinznest miteinander zu vermischen – und die Vermischung nicht anstößig zu finden. Als Kind öffnete ich frühmorgens alle Schubladen, weil mir auch unsere Wohnung fremd war. Der Anblick der frischen Wäsche, der Blusen und Hemden in den Schubladen beruhigte mich. Meine Mutter fragte mich, warum ich die Schubladen herauszog. Natürlich konnte ich nicht antworten. Ich wusste noch nicht, was Fremdheit war, obgleich ich schon in ihr lebte. Heute bin ich froh, dass ich als Kind nicht reden konnte. Meine Mutter wäre fassungslos gewesen, wenn ihr kleiner Sohn über Fremdheit gesprochen hätte. Leider hat Frankfurt auch keine Schubladen, dafür aber ein paar sehr lange Straßen, die großen Schubladen ähneln. Zum Beispiel die Berger Straße und die Leipziger Straße, die langsam aus der Stadt hinausführen bis in die immer noch bäuerlichen Randgebiete hinein, wo die Stadt buchstäblich auf dem Acker endet. Die Transformation der Stadt in ein paar Spargelfelder ist ein bedeutsames Erlebnis, das ich von Zeit zu Zeit wiederhole. Irgendwann hatte ich dabei den Einfall, dass die Provinzfrage eine Scheindebatte ist, bei der es nicht um die Klärung von äußerer Realität geht. Die Empfindung, ein Provinzler zu sein, ist nichts weiter als eine Metapher für einen namenlosen inneren Mangel, für den es keinen äußerlichen Ort gibt. Es ist deswegen sinnlos und töricht, nach einem Repräsentanten zu suchen, den es »wirklich« gibt. Es ist ebenso sinnlos, immerzu nach innen zu schauen, um den Ort eines privaten, persönlichen Mangels doch noch zu entdecken. Er ist zwar da, aber er lässt sich nicht blicken.
Von meinem Arbeitszimmer aus blicke ich fast täglich auf die Fenster eines Bürohauses. Morgens gegen halb acht flammen die Neonröhren an den Zimmerdecken und danach die Bürolampen über den Schreibtischen auf. Die Herren nehmen Platz, die Damen schauen zuerst nach dem Wohlergehen der Zimmerpflanzen. Einige Fenster werden fünf Minuten lang aufgeklappt, jetzt ist das Frischluftproblem auch erledigt. Danach geschieht nichts mehr; es wird gearbeitet: am Computer und am Rechenautomaten. Dann und wann geht ein Mann auf einen der kleinen Balkone und raucht zügig eine Zigarette. Die Angestellten bleiben bis 16.30 Uhr auf ihren Plätzen. Danach – als gäbe es eine Bürosirene – suchen sie ihre Taschen, Regenschirme und Hüte, und erst dabei zeigen sie, wie unaufregend sie sind. Die meisten Frauen sind zu dick, die Männer ebenfalls. Die Frauen tragen türkisfarbene Pullis und schlichte Röcke, die Männer ärmellose Westen und unscheinbare Hosen. Man kann sagen: Das Personal passt zu seinen Schreibtischen. Jetzt decken sie ihre Arbeitsgeräte mit Plastikhüllen ab, knipsen das Licht aus und verschwinden. Eine halbe Stunde lang bleibt alles dunkel. Dann füllen sich die Büros wieder mit gleißend hellem Licht. Drei Putzfrauen erscheinen. Ich scheue mich, sie Putzfrauen zu nennen. Sie sind jung, blond und schwarzhaarig, sie haben eine gute Figur und sind attraktiver gekleidet als das Personal. Dennoch tragen sie kleine Plastikeimer in die Räume und fangen an, mit gelben Lappen über Schreibtische und Fensterbretter zu wischen. Die Frauen sehen aus wie Filmstars der sechziger Jahre, die leider keine Engagements mehr finden. Sie wirken – eine von ihnen hat ein etwa vierjähriges Kind mitgebracht – deswegen so erstaunlich, weil sie meinem überkommenen Bild von Putzfrauen total widersprechen. Vor ungefähr 35 Jahren, als ich zuletzt in Büros gearbeitet habe, waren Putzfrauen alte und hässliche Frauen ohne Berufsausbildung. Ich nehme an, die drei Putzmodels, die ich von meinem Fenster aus betrachte, gehen hier ihrem Zweitjob nach. Sie arbeiten tagsüber in anderen, »wirklichen« Berufen, aber ihr Problem ist: In ihren Erstjobs verdienen sie nicht genug. Ihre Aufmachung verrät, dass sie ein konsumorientiertes Leben führen, das mit einer gewöhnlichen Arbeitsstelle nicht zu finanzieren ist. Eine der Frauen holt einen Taschenspiegel hervor und malt sich die Lippen nach. Eine andere schaut fünfzehn Sekunden lang in den leeren Hof hinunter. Es entsteht eines der Bilder von Edward Hopper, von denen man nicht weiß, warum sie melancholisch sind. Nach weiteren zwei Minuten öffnen sich die Zimmertüren, und drei junge Männer treten ein. Auch sie sind schlank und schick angezogen
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