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Tarzan am Main

Tarzan am Main

Titel: Tarzan am Main Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Verwandtschaft dieser Mischpoke an. Auch meine Frau teilte die Furcht vor den Restriktionen der kleinbürgerlichen Moral. Sie gehörte, bevor ich sie kennenlernte, einem Freiburger Studenten- und Künstlerkreis an, der Bürgerlichkeit jeder Art verachtete. Sie propagierte zum Beispiel das Recht auf Untreue, womit meine – kleinbürgerliche – Eifersucht erhebliche Probleme hatte. Für meine Frau war Eifersucht nichts weiter als ein übles Unkraut, von dem man sich gefälligst zu emanzipieren hatte. Für mich jedoch war Eifersucht der Darsteller eines Schmerzes, der ein originärer Teil des Lebens selbst war und nicht so einfach wegargumentiert werden konnte. Der Schmerz zeigte sich mir zum Beispiel in einem unaufhebbaren Widerspruch, der meiner Frau sehr gefiel: Ich war gerne mit ihr zusammen, aber ich war nicht gerne verheiratet, weder mit ihr noch mit einer anderen Frau. Vor diesem Hintergrund war klar, dass die Boheme als Lebensform die inneren Probleme des Ichs völlig unberührt ließ. Wir konnten uns halbe oder ganze Nächte um die Ohren schlagen, ohne dass dabei auch nur ein Konflikt verdampft wäre. Die Boheme gewährte höchstens einen kurzen Urlaub von den Konflikten, mehr nicht.
    Viel peinigender war für mich ein anderes Problem: Ich wusste nicht, wie ich meine finanzielle Situation aufbessern sollte. Der Boheme-Forscher Gerd Stein schrieb 1982: »Noch während die Boheme ihr Künstler-Dasein aufmüpfig als eine kunterbunte, antibürgerliche Episode bestreitet, spekulieren diese Bohemiens bereits auf gediegenere Lebensformen«. Genauso kam es. Aber wo gab es »gediegenere Lebensformen«? Es existierte nicht nur die pardon -Clique, die sich nächtens herumtrieb. Es tauchten außerdem, oft in den gleichen Lokalen, noch vier weitere Gruppen auf. Ich meine die Leute aus den Literatur-Verlagen, insbesondere von Suhrkamp und S. Fischer; dann die Damen und Herren aus der Werbebranche; drittens studentische Intellektuelle, von denen viele nicht wussten, ob sie ihr Studium abschließen sollten oder nicht; und viertens junge Schauspieler und Regisseure aus den kleinen und großen Theatern. Alle diese Menschen hatten eines gemeinsam: Sie hatten zu wenig Geld – und es war ihnen verhasst, sich ausgerechnet wegen Geld krummlegen zu müssen. Ich begann in den frühen siebziger Jahren, kürzere und längere Texte zu schreiben, die ich den Literaturabteilungen der Radiosender anbot. Von diesen einzelnen, noch nicht als zusammenhängend vorgestellten Texten wusste ich damals nicht, dass sie Vorstudien für die Abschaffel -Romane waren. Eines Tages traf ich beim Saarländischen Rundfunk den Berliner Autor Nicolas Born. Er war ein scheuer, freundlicher junger Mann und Dichter, der Gefallen gefunden hatte an dem Text, den ich in Saarbrücken gelesen hatte. Er nahm den Text mit nach Berlin und veröffentlichte ihn ein paar Monate später im Rowohlt’schen Literaturmagazin, zu dessen Herausgebern er gehörte. Auf diese überraschende Weise hatte ich plötzlich Kontakt zum Rowohlt Verlag.

Obwohl er keine Ahnung hat , ist der frisch angekommene Provinzler oft der heftigste Propagandist der Großstadt, in der er künftig leben wird. Er schämt sich ein bisschen seiner bedeutungslosen Heimat und ist froh, dass er ihr entkommen ist. Jedenfalls sagt er das. Er wird Jahre brauchen, bis er seine Überschätzungen der Stadt als solche durchschaut. Aber dann erinnert er sich in liebevollem Ton an seine anfänglichen Erwartungen. Der Provinzler ist bereit, sich in der Fremde über seine alte Heimat lustig zu machen, was er sich zu Hause nicht getraut hat. Jetzt sitzt er in der U-Bahn und lernt die Namen der Haltestellen. Ich erinnere mich oft an meine ersten Jahre in Frankfurt und wie heftig ich anfangs glaubte, niemals in dieser Stadt »anzukommen«. Ich ließ mir, wie so oft, von der Literatur helfen, zum Beispiel von den Romanen von Thomas Wolfe, F.  Scott Fitzgerald oder Sherwood Anderson. Die Ankunft eines schüchternen Fremden in einer neuen Stadt ist ein uramerikanisches Thema. Die Wahrheit ist: Die Lektüre dieser Romane half mir nicht. Was sich stattdessen ereignete, war eine Erfahrungsspaltung. Ich fand die Romane gut, aber sie hatten eben nichts mit mir und Frankfurt zu tun. Ich war nicht einmal in der Lage, über mein Problem mit Kollegen zu reden. Auch sie waren neu hier, auch sie waren fremd, auch sie waren Provinzler, aber auch sie waren überwiegend stumm. Mir war erst geholfen, als ich eines Tages bemerkte,

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