Tarzan am Main
verfallene Kinokarten, Kassenbelege, Einkaufsquittungen. Auf der Rückseite eines Parkhaus-Scheins stehen vier handgeschriebene Sätze: Lange geht das nicht mehr. Du machst mich fertig. Ich gehe zu meiner Mutter und hole Geld. Um sieben bin ich zurück und koche Nudeln. Ich lasse den Parkhaus-Schein in meiner Anzugtasche verschwinden. Es wird Abend. Ich habe nicht die geringste Ahnung, warum mich der letzte Satz rührt: Um sieben bin ich zurück und koche Nudeln.
Auch ich gehe gern in den Supermarkt . Wenn mein Text nicht richtig vorwärts will, ziehe ich eine Jacke an, klemme mir eine Tasche unter den Arm und mache mich auf den Weg. Der Supermarkt ist die kleinste mögliche Erlebniseinheit in der Stadt. Dabei sind die hier angebotenen Erlebnisse nicht jedermanns Sache und nicht leicht zu beschreiben. Jeder Supermarkt von einiger Größe ist eine Art Fluchtraum. Ein Fluchtraum für Menschen, denen die Welt des heimischen Wohnzimmers, der Küche oder des Büros gerade zu nahe tritt. Man sieht den Flüchtenden diese Übernähe an. Sie laufen in der überhellen Atmosphäre zwischen den Regalen umher, sie wissen nicht recht, warum sie hier sind und was um Gottes Willen sie kaufen sollen. Ich kaufe mir wenigstens ein paar Tomaten, zwei Flaschen Mineralwasser und ein bisschen Obst. Der Supermarkt ist auch ein großer Mitleidsraum. Das Mitleid trifft nicht nur zwei oder drei sichtbar überlastete Verkäuferinnen, sondern auch zwei oder drei Handymänner, die hier ihre Freundin anrufen. An ihrem Ehering kann man sehen, womit sie nicht mehr klarkommen. Die Männer sprechen leise, sie wollen auch hier nicht auffallen. Das Handy klemmen sie sich eng zwischen Hals und Wange. Man sieht: Das Handy ist momentan der einzige mögliche Stellvertreter des begehrten Objekts. Das Kalkül der Männer ist stimmig: Sie fallen nicht auf, sie werden von niemandem gestört und von niemandem observiert. Es sind auch junge Ehefrauen mit Kindern unterwegs. Die Anspannung ihres gegenwärtigen Lebens ist ihnen ebenfalls anzusehen. Sie sind überaufmerksam, weil sie zu vieles auf einmal im Blick haben müssen. Besonders ihren etwa fünfjährigen Sohn, der sein Laufrädchen mitgebracht hat. Mit diesem saust er durch die engen Gänge – und kann natürlich nicht bemerken, dass er seine Mutter wieder nervt. Denn die Mutter fährt außerdem ihr höchstens eineinhalbjähriges Baby im Kinderwagen umher. Es greift schon nach Senfgläsern und Joghurtbechern und Schokoladenkügelchen. Für die Kinder ist der Supermarkt nichts weiter als ein besonders anregender Abenteuerspielplatz. Deswegen verstehen die Kinder nicht, dass sie von ihren Müttern laufend diszipliniert werden. Einige von ihnen werden grantig, schlagen nach ihren Müttern oder fangen an zu heulen. Die Mütter haben es geahnt, aber schließlich müssen sie einkaufen. Es gibt auch Tage, an denen die Kinder müde und schlapp und schläfrig herumwanken wie butterweiche Frührentner. Nein, ein solcher Tag ist heute nicht.
Es gibt nicht nur die spießige Wohnung , das spießige Auto und die spießige Hollywood-Schaukel, es gibt auch den spießigen Lebenstraum. Mir begegnen spießige Menschen in großer Zahl. Sie sehen in mir einen Glückspilz, den man nur beneiden kann. Sie haben keines meiner Bücher gelesen, Gott bewahre, soweit lassen sie es nicht kommen. Aber sie lesen Zeitung und sehen mich dann und wann im Fernsehen, und wer im Fernsehen auftritt, gehört zum Kreis der Edlen und Geweihten. Es irritiert sie nicht, dass ich ohne Bedauern antworte: Ich habe keinen Fernseher. Was?! rufen sie aus. Dann können Sie sich ja nicht einmal im Fernsehen sehen. Ich schweige, was meine Gesprächspartner wieder nicht irritiert. Vielleicht sind sie erschütterungsresistent, wenn es so etwas gibt. Aber dann haben sie einen Einfall, der sie weiterbringt: Aber Sie sind ja die meiste Zeit nicht da! Sie leben in Ihrem Häuschen auf den Malediven oder sitzen am Ufer des Gardasees. Jetzt lachen sie, weil sie vorschnell annehmen, sie hätten ins Schwarze getroffen. Dann kommt die Enttäuschung. Ich habe kein Häuschen auf den Malediven, sage ich ruhig, ich sitze auch nicht am Ufer des Gardasees. Jetzt haben sie genug von mir. Sie wollen es bloß nicht zugeben, ruft einer ein wenig höhnisch aus, sie reden nicht gern mit solchen armen Eulen, wie wir es sind.
Das Wort von den armen Eulen gefällt mir, sonst nichts. Ich sehe ein, dass ich meine Position (wenn es sich um eine Position handelt) nicht deutlich machen
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