Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tarzan am Main

Tarzan am Main

Titel: Tarzan am Main Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
Vom Netzwerk:
bald die langgezogenen Ohren einer Oma haben werde. Es nützte nichts. Jetzt ist sie tatsächlich Oma geworden. Ihr Haar, das einmal blond und geschmeidig war, ist jetzt weiß und strohig. Sie bindet es immer noch, wie damals, zu einem Pferdeschwanz. Sie trägt einen prall gefüllten Rucksack und schiebt ein Fahrrad über den Markt. Ihre Ohrläppchen sind ungewöhnlich lang. Ich habe mich insofern geirrt, als dass niemand Anstoß nimmt an ihren langen Ohrläppchen, nicht einmal ich. Weil sie durch das Zupfen länger als gewöhnlich sind, haben sie auch Falten geworfen. Das ist die einzige Überraschung: dass auch Ohrläppchen Falten werfen. Einerseits will ich mit ihr sprechen, andererseits weiß ich, dass es vielen Menschen peinlich ist, von Mitwissern ihrer Jugend angesprochen zu werden. Es ist nicht so, dass nicht auch ich mich erheblich verändert hätte, vermutlich noch stärker als sie. Ich bin nicht mehr schlank (auch sie ist füllig), ich bin von starkem Haarausfall gezeichnet (sie nicht), ich gehe vornübergebeugt (sie nicht), ich trage eine Brille (sie nicht). Nein, mit dem Jüngling von damals habe ich nichts mehr zu tun. Ich komme meiner Liebesoma ziemlich nahe. Sie hat nicht die geringste Ahnung, dass sie von einem Schwärmer ihrer Jugend betrachtet wird. Mit einiger Mühe nehme ich es hin, dass sie mich nicht erkennt, obwohl ich darüber gleichzeitig froh bin. Nein, es überwiegt das Bedürfnis, wiedererkannt zu werden. Aber sie interessiert sich nur für Radieschen, Orangen, Kohlrabi und Mohrrüben. Wahrscheinlich versorgt sie den Haushalt eines Sohnes oder einer Schwiegertochter und muss um die Mittagszeit ein paar Kinder bekochen; wahrscheinlich würde sie davon sofort erzählen.

Der Pendler hat inzwischen eine Geliebte . Seine Ehefrau weiß nichts von ihrer Konkurrentin, aber sie rechnet sich aus, dass er in ein zweites Verhältnis eingetreten sein muss. Die Geliebte hingegen weiß über die Ehegeschichte sehr gut Bescheid. Das liegt zum Teil an ihrer Neugierde, zum anderen Teil an seiner Art, sich als Opfer seiner Verhältnisse darzustellen, wovon weder die Ehefrau noch die Geliebte etwas wissen will. Beide stellen sich den Mann nach wie vor als Souverän seiner Existenz vor, was ihn bei beiden ärgert. Sie haben eben keine Ahnung, was es bedeutet, als Nobody in einer großen Angestelltengesellschaft zurechtzukommen. Der wichtigste Punkt ist die Auflösung der früheren Identität von Wohnort und Arbeitsort. Mit dieser Auflösung begann auch die Auflösung seiner Ehe. Formal funktioniert sie weiter wie früher, aber faktisch schleichen sich mehr und mehr Augenblicke der Vernachlässigung, der Gleichgültigkeit, der Abwendung voneinander ein. Dabei leiden sie beide nicht an Schuldgefühlen über die allmähliche Entzweiung. Beide sind überzeugt, in einer Art Notwehr fixiert zu sein. Besonders er ist von seiner Opferrolle überzeugt. Schließlich ist er nur deshalb in Frankfurt gelandet, weil er unter allen Umständen viel Geld verdienen musste, und zwar im stets fühlbaren Auftrag seiner Frau. Und es leuchtet ihm nicht ein, dass er in der Rolle des Geldverdieners mit sexueller Entsagung zahlen soll. Wenn er sich schon krummlegt, dann bitte so entspannt und genussreich wie möglich. Wenn das nur so einfach wäre! Denn tatsächlich setzt ihn auch seine Frankfurter Geliebte unter Druck. Sie ist ebenfalls vor einer Ehe geflohen oder von einer Ehe übrig geblieben; aber immerhin hat sie es geschafft, dass demnächst vor einem Familiengericht die Scheidung ausgesprochen wird. Genau das verlangt sie auch von ihrem Geliebten. Je länger er zögert, desto mehr wächst ihr Misstrauen.
    Im Kern sind beide Kleinbürger, die nicht recht wissen, wie sie sich in Sicherheit bringen sollen. Sicherheit wäre: dass ihnen keine weiteren biografischen Unglücke mehr zustoßen. Er zweifelt, ob er die Kraft hat, die Auswechslung der ersten gegen die zweite Frau auszuhalten. Im Stillen hängt er der Idee nach, dass das Verhältnis zur Ehefrau wieder in Ordnung kommen könnte. Die gegenwärtige Zerrüttung hat niemand vorhersehen können. Die Hauptschuld trägt seiner Meinung nach der rabiate Konsumdrang seiner Frau. Als sie sich kennenlernten, lebten sie in einer mittelgroßen Zwei-Zimmer-Wohnung in den zurückgelassenen Möbeln der Vormieter. Er war mit dieser Grundausrüstung zufrieden, sie nicht. Sie drängte nach einer großen, neuen Wohnung mit neuen Möbeln, neuen Gardinen, neuen Teppichböden, neuer Wäsche, neuen

Weitere Kostenlose Bücher