Taschenlehrbuch Biologie - Evolution - Oekologie
verdanken. Der Begriff der Selektion bereitet hingegen sehr häufig Verständnisprobleme: Wie oben schon erwähnt, ist Selektion am besten als eine statistische Größe anzusehen, die besagt, dass eine bestimmte Variation eine bestimmte Wahrscheinlichkeit im Vergleich zu anderen Varianten hat, sich zu vermehren bzw. nicht auszusterben. Da sich die Zusammensetzung der Varianten in einer Population mit der Zeit entweder zufällig oder durch Selektion verändert, ist diese Wahrscheinlichkeitsgröße stetiger Veränderung unterworfen. Evolutionsbiologen bezeichnen entsprechend als Fitness die Tauglichkeit einer Variation, innerhalb der Population von Variationen in einem begrenzten Lebensraum in der Zeit zu überdauern. Dies kann als Maß für die Angepasstheit einer Variante an die jeweiligen Umweltbedingungen dienen. Die Selektion beruht in der Regel nicht auf einer einzelnen Eigenschaft einer Variante, sondern auf der besten Kombination von Eigenschaften für die jeweiligen Umweltbedingungen. Die Wirkung der Selektion wird mit dem Begriff Selektionsdruck , d. h. der kombinierten Wirkung der auf die Vielfalt der Varianten einwirkenden Umweltfaktoren beschrieben. Selektion kann in drei Formen auftreten (Abb. 7. 1 ): (1) stabilisierende Selektion, (2) gerichtete Selektion und (3) disruptive Selektion. Der Selektionsprozess wirkt auf der Ebene der Population, d. h. einer Gruppe von Individuen einer Art, die zu gleicher Zeit in einem begrenzten Gebiet leben und sich sexuell miteinander fortpflanzen können. Die Individuen mit durch die Selektion bevorzugten Genvarianten (Allele) haben einen höheren Fortpflanzungserfolg, wodurch die Häufigkeit bevorzugter Genvarianten in der Population zunimmt.
Abb. 7. 1 Die drei Formen der Selektion. Die Kurven geben die Häufigkeit der Phänotypen an. Die erste Reihe zeigt die Verteilung der Allele in der Ausgangspopulation, während die untere Reihe die Verteilung in der Folgegeneration zeigt. Rot markiert sind die Bereiche der Verteilung von Allelen, die unter dem gegebenen Selektionsdruck einen geringeren reproduktiven Erfolg haben und somit weniger zu der Folgegeneration beitragen.
Der Nachweis für die Selektion eines Gens bzw. Genotyps beruht auf einer Abweichung von einer konstanten Verteilung der Varianten eines Gene bzw. Genotyps, wie es in der Hardy-Weinberg-Formel ( Siehe hier ) dargestellt wird. Selektion führt zu einer Vermehrung der besser angepassten Genvarianten und zur Verringerung des Anteils der anderen, weniger gut angepassten Genvarianten. Allerdings kann eine solche Abweichung auch aufgrund zufälliger Verteilung von Genvarianten, zum Beispiel bei der Kolonisierung entlegener Gebiete bzw. bei einem Schrumpfen des Verbreitungsgebietes durch Aussterben, entstehen. Entsprechend wird eine funktionelle Erklärung mithilfe ökologischer/physiologischer Daten benötigt, um die Hypothese einer Selektion zu untermauern.
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Wie bei kaum einer anderen Wissenschaftsdisziplin wird die Arbeitsweise der Evolutionsbiologie missverstanden. Heutige Evolutionsbiologie ist keineswegs auf das Ansammeln von Beobachtungen beschränkt, die eine Evolution nahelegen. Im Gegenteil, Evolutionsbiologie beruht auf Arbeitshypothesen , die mithilfe empirischer Daten geprüft werden. Allerdings sind viele Vorgänge in der Evolution sehr langwierig und ihre Beobachtung übersteigt nicht nur die Längeeines Forscherdaseins, sondern meist der gesamten Menschheit. Somit können diese Vorgänge nur für wenige Ausnahmen in kontrollierten Laborexperimenten geprüft werden. Wie bei vielen anderen naturwissenschaftlichen Disziplinen werden entsprechend nur wenige Aspekte der Prozesse mit Laborexperimenten untersucht und die meisten Aspekte anhand von empirischen Beobachtungen untermauert. Die meisten Evolutionsstudien haben entsprechend den folgenden Aufbau: Im ersten Schritt wird eine Arbeitshypothese aufgrund voriger Studien aufgestellt. Darauf erfolgt im zweiten Schritt die Auswahl eines geeigneten Organismus bzw. mehrerer geeigneter Organismen und die Auswahl geeigneter Methoden zur Bestimmung von aussagekräftigen Variablen. Im dritten Schritt erfolgt die Aufnahme der Daten, und im vierten Schritt ihre Auswertung mit zumeist komplexen statistischen Verfahren. Die Ergebnisse erlauben entweder eine Bestätigung oder Widerlegung der Arbeitshypothese. Im fünften Schritt erfolgt die notwendige Fehleranalyse, um falsche Aussagen zu vermeiden. In den folgenden Kapiteln werden Beispiele für
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