Taschenlehrbuch Biologie - Evolution - Oekologie
Autapomorphie als Monophylum erwiesen werden, dann kann es aber auf keinen Fall in die direkte Vorfahrenreihe rezenter Taxa gehören. Fossile Befunde sind für die Phylogenetik oft nur mit Vorsicht auswertbar (Abb. 8. 6 ).
Abb. 8. 6 Fossilfunde aus bestimmten geologischen Schichten können für die Datierung von Stammbaumverzweigungen herangezogen werden, allerdings sind dabei Missinterpretationen möglich. Beispiel: Das Merkmal Stern liegt in den rezenten Taxa A, B in den beiden Zuständen Vollstern und Offenstern vor, dabei ist Vollstern die aus Offenstern abgeleitete Form. Fände man Vollstern-Fossilien in einer älteren geologischen Schicht (t 2 ) als Offenstern-Fossilien (t 3 ) würde bei Anwendung der „paläontologischen Merkmalspräzedenz“ auf eine falsche Lesrichtung geschlossen.
Ein ständig auftauchendes Beispiel für diesen Sachverhalt ist die Einordnung des Urvogels Archaeopteryx lithographica . Bis jetzt hat man noch kein Sondermerkmal, also keine Autapomorphie, dieser Art gefunden. Damit könnte Archaeopteryx lithographica Vorfahr der heutigen Vögel gewesen sein. Es könnte aber auch sein, dass dieser Urvogel ausgestorben ist, kurz nachdem seine Linie von der der heutigen Vögel abzweigte. Die in der relativ kurzen Zeit seiner Eigen-Evolution erworbenen Merkmale könnten in Organen oder Körperbereichen gelegen sein, die fossil nicht erhalten sind. Es folgt daraus, dass fossile Taxa – einzelne Arten wohlgemerkt – in manchen Fällen paraphyletisch sein müssen, wenn sie nämlich Vorfahren heutiger Taxa sind, dass man dies aber nie nachweisen kann.
In vielen Studien werden anstelle von Fossilien molekulare Befunde zur absoluten Datierung von Artspaltungs-Ereignissen verwendet. Molekular-Systematiker gehen von gleichmäßigen Aminosäuren- beziehungsweise Nucleotid-Austauschraten aus ( molekulare Uhr ) ( Mikrobiologie ). Ist die Austauschrate konstant und bestimmbar, dann ist ein solches Vorgehen berechtigt. Allerdings mehren sich die Hinweise, dass die Austauschrate unter dem Einfluss verschiedener Faktoren (Temperatur, energiereiche Strahlung, chemisches Milieu, aber auch enzymatische Vorgänge im Organismus) variiert, sodass die molekulare Uhr auf keinen Fall gleichmäßig und genau gehen kann. Zudem scheinen in verschiedenen Molekülen die Substitutionsraten verschieden zu sein, sodass es verschiedene molekulare Uhren geben muss. Die Annahme einer gleichmäßigen Austauschrate basiert auf der Theorie der neutralen Evolution (Motoo Kimura, 1924–1994), die besagt, dass der größte Teil aller genetischen Varianz keinen Einfluss auf die Fitness hat, also selektionsneutral ist. Die fraglos vorkommenden Mutationen, die zu Fitness-Unterschieden führen, sollen vergleichsweise so selten sein, dass sie statistisch vernachlässigt werden können. Die Diskussion um diese Fragen ist noch nicht abgeschlossen.
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Datierung von Artspaltungsereignissen: Geologische Uhr (Fossilien), molekulare Uhr (Mutationsraten).
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8.6 Verschiedene „Schulen“ der Systematik
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Den drei bisher etablierten modernen Herangehensweisen der Systematik liegen unterschiedliche Akzentsetzungen zugrunde. Die Phylogenetische Systematik ( Kladistik ) setzt die Ergebnisse der kladistischen Analyse eins-zueins um in ein geschriebenes System, in dem jede Einheit als Monophylum bzw. Biospezies ausgewiesen ist. Die Evolutionäre Klassifikation analysiert zwar nach derselben Methode, bildet jedoch im System nicht notwendigerweise die Kladogenese exakt ab, sondern lässt im System ausdrücklich auch Paraphyla zu, wenn dadurch unterschiedlicher evolutionärer Erfolg bzw. unterschiedliche evolutionäre Plateaus gekennzeichnet werden können. Die Numerische Taxonomie ( Phänetik ) analysiert nach Gesamtähnlichkeiten und erhält dadurch unter Umständen Verwandtschaftsdiagramme mit deutlich anderer Topologie als die anderen beiden Schulen.
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Das Bestimmen und Ordnen von Arten ist von jeher ein Anliegen des Menschen gewesen, dabei gibt es nicht nur eine Möglichkeit, die Organismen vernünftig zu ordnen. Bestimmungsliteratur geht nach sehr verschiedenen Gesichtspunkten vor: So lassen sich Blütenpflanzen nach ihrer Blütenfarbe, ihrem Standort oder ihrem jahreszeitlichen Erscheinen gruppieren und identifizieren. Je nach dem gewählten Kriterium kommt man zu unterschiedlichen Einteilungen, die den pragmatischen Zweck einer Artbestimmung durchaus erfüllen können, aber den Nachteil haben, dass einige Lebewesen sich keiner
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