Taschenlehrbuch Biologie - Evolution - Oekologie
der Zahl von unterstellten Schritten, und das Wichten von Merkmalen mit einem höheren Gewicht als 1 führt zwangsläufig zu höheren Baumlängen.
Wichten aber führt unvermeidlich einen gewissen Grad von Willkür in die Prozedur ein, da Komplexität nicht objektiv gemessen werden kann. Vor allem kann man die Komplexität von äußerlich sichtbaren Merkmalen und die Komplexität von molekularen Merkmalen nicht vernünftig vergleichen. Es ist nie sicher, ob ein komplex erscheinendes Merkmal auch auf einem komplexen (ontogenetischen) Entwicklungsvorgang beruht. Zwei Auswege wurden vorgeschlagen: die sogenannten Konsensverfahren ( Siehe hier ) und die sogenannten Gesamt-Evidenz-Verfahren. Beim Konsensverfahren werden für die Kombination von molekularen mit nicht molekularen Daten für die beiden Datensätze getrennt die sparsamsten Bäume ermittelt und aus diesen ein Konsens-Baum erstellt. Der Vergleich der Einzel-Bäume und des Konsens-Baumes zeigt, welche Gruppierungen von welchen Daten unterstützt werden beziehungsweise wo widersprüchliche Evidenz vorliegt. Beim Gesamt-Evidenz-Verfahren (total evidence) werden alle Daten gleich behandelt und im selben Rechendurchgang analysiert. Dadurch bestimmen die zahlreicheren Merkmale oder die wesentlich homoplasieärmeren Merkmale in höherem Maß das Ergebnis.
Der Einsatz von Konsens- oder Gesamt-Evidenz-Verfahren ist nicht beschränkt auf den speziellen Fall von molekularen und morphologischen Daten. Ganz allgemein können auf diese Weise Bäume, d. h. phylogenetische Hypothesen, verglichen werden, die auf verschiedenen Datensätzen beruhen.
Die Phylogenetik wandelt sich durch die Sequenzierung ganzer Genome und der Anhäufung immer umfangreicherer Daten (nicht ausschließlich molekularer Daten) zu einer Wissenschaft der Informationsverarbeitung, unterstützt durch (bio)informatische Techniken. Diese Entwicklung wurde erst durch leistungsstarke Computer, moderne Sequenziertechniken und technisch aufwendige morphologische Analysetechniken (Computertomographie-Verfahren) möglich.
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Sequenzalignierung: Durch Ausrichtung der Positionen versucht man ein Maximum an Ähnlichkeit zwischen Sequenzen zu erreichen (Homologisierung von Positionen).
Maximum-Likelihood-Verfahren: Berücksichtigen ein explizites Substitutionsmodell und schätzen die Wahrscheinlichkeit, dass ein Substitutionsmodell + Baum + Zweiglängen die Daten generiert hat .
Bayessche-Verfahren: Ermitteln das Set an Bäumen, deren kumulative Bayessche Wahrscheinlichkeiten das Datenset höchstwahrscheinlich erklären.
Molekulare Daten in der Phylogenetik: Sequenzdaten und Distanzdaten geeignet.
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8.5 Datierung von Artspaltungen
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Kladistische Analysen ergeben nur Hypothesen über relative Abfolgen von Artspaltungen. Aus dem fiktiven Beispiel in Abb. 8. 4 ist zu entnehmen, dass sich die Art 4 früher spaltete als Art 5, aber ob die Spaltung der Art 5 oder die der Art 6 eher in der Erdgeschichte erfolgte, ist völlig offen. In der Phylogenetik versucht man – mit gewissen Einschränkungen – die Artspaltungen eines Kladogramms durch die Einordnung von Fossilfunden oder mithilfe der molekularen Uhr absolut zu datieren.
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Eine besondere Bedeutung haben Fossilien in der Phylogenetik, weil sie es manchmal erlauben, Ereignisse der Vergangenheit absolut zu datieren. Mit dem absoluten Alter von Fossilien kann auch die Zeit eingegrenzt werden, in der ein Artspaltungsereignis stattgefunden haben muss, weil durch Fossilien jeweils der Zeitpunkt angegeben werden kann, zu dem spätestens ein fragliches Merkmal vorhanden gewesen sein muss. Fossilien lassen auf das Mindestalter rezenter Taxa schließen. Fossilien weisen jedoch im Allgemeinen deutlich weniger Merkmale auf als rezente Organismen, selbst wenn es sich in letzterem Fall um konserviertes Museumsmaterial handelt.
Fossile Taxa können zwar theoretisch tatsächlich in die Vorfahrenreihe von rezenten Taxa gehören, man kann dies jedoch niemals wirklich beweisen, da es sich ebenso gut um ausgestorbene Seitenzweige ohne Nachkommen handeln kann. Vorfahren können kein im Vergleich zu ihren Nachkommen abgeleitetes Merkmal besitzen. Entweder weist ein Fossil gegenüber seinen möglichen Nachkommen kein einziges Merkmal in einer abgeleiteten Form auf, dann kann es ein Vorfahr sein. Es handelt sich aber nicht unbedingt um ein Monophylum und eine mögliche Autapomorphie ist möglicherweise fossil nur nicht belegbar. Oder ein Fossil kann durch eine
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