Tatjana

Aussagen, keine Zwangsvorladungen und keine Anwälte. Die Leiche ist verschwunden. Der Kommandant hat mich abgewiesen. Also haben wir unser Soll an nichts übererfüllt. Wohin fahren wir?«
    »Zu unserer Zeugin.«
    »Die Nachbarin? Swetlana?«
    »Ich hab dir doch gesagt, sie hat Schreie gehört.«
    »Na gut, sagen wir mal, du hättest die Zustimmung zu einer Ermittlung – die du nicht hast, aber egal –, hat sie wirklich was gesehen? Stand sie unter Drogeneinfluss? Könnte sie den Zeitpunkt beschwören? War sie mit einem Freier zusammen? Schöne Zeugin.«
    »Wir brauchen mehr, da stimme ich dir zu.«
    »Mehr?«
    »Wir sollten mit allen Kollegen und Freunden von Tatjana sprechen, um herauszufinden, in welcher seelischen Verfassung sie war. Außerdem hat sie über einen Toten in Kaliningrad recherchiert. Sie kämpfte an vielen Fronten.«
    »Arkadi …«
    »Und sie scheint ein kostspieliges Bauprojekt behindert zu haben.«
    »Arkadi, ich sag das ja nicht gern, aber der Fall ist abgeschlossen. Die Ermittlung ist vorbei. Nicht nur das, es sieht wirklich wie Selbstmord aus. Sie kam allein nach Hause, hat die Tür abgeschlossen und ist vom Balkon gesprungen. Allein. Sie hat niemandem vertraut, was unter den Umständen absolut sinnvoll war. Sieht aus, als wäre die ganze Stadt hinter ihr her gewesen. Sie haben sie dazu getrieben.«
    »Sie hat ihrer Nachbarin den Wohnungsschlüssel anvertraut.«
    »Leider eine Verrückte. Wird Zeit, dass du wieder auf die Beine kommst, aber mit einem echten Mord. Ohne Leiche gibt es keinen Fall. Wir fangen langsam mit gefährlicher Körperverletzung an und arbeiten uns hoch. Oder, auf persönlicher Ebene, warum findest du nicht heraus, wer auf dir rumgetrampelt ist? Ich habe ein paar Anrufe getätigt, während du auf der faulen Haut gelegen hast.«
    »Und?«
    »Jeder zweite Demonstrationsteilnehmer leugnet, überhaupt dort gewesen zu sein. Die einzigen beiden, die den Vorwurf wirklich unterstützen, sind Anja und Obolenski, aber damit verkauft man Zeitschriften, nicht wahr?«
    »Was ist mit Maxim Dal? Er hat uns gerettet.«
    »Ist abgetaucht. Wenn man andere außer Obolenski, Anja und dir hört, gab es keine Demonstration. Das ist wie das alte Sprichwort von dem Baum, der im Wald fällt. Wenn es niemand hört, war da überhaupt ein Geräusch?«
    »Und wenn er auf dich fällt?«
    Während sie sich die sechs Stockwerke zu Swetlanas Wohnung hinaufquälten, keuchte Viktor: »Weißt du, ich habe dich wirklich vermisst, als du flachgelegen bist. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.«
    An Tatjanas Tür klebte eine Quittung von der Kurischen Renaissance-Gesellschaft für den Inhalt der Wohnung, der innerhalb eines Monats nach Bezahlung einer Lagergebühr abgeholt werden könne. Nach dreißig Tagen würde alles entsorgt werden.
    Die Tür öffnete sich auf ein Antippen.
    Tatjanas Wohnung war vollkommen leer. Möbel, Elektronik, selbst die Teppiche waren verschwunden. Bücher, Fotos, Musik – alles weg. Jeder Schritt hallte in den Räumen wider, Staubkörner tanzten im späten Nachmittagslicht.
    »Eine Renaissance-Gesellschaft? Das klingt nett«, meinte Arkadi. »Erinnert mich an da Vinci, Michelangelo, Bernini.«
    »Und mich an die Borgias«, sagte Viktor. »Also haben wir keine Zeugin, keine Leiche und jetzt auch keinen Tatort.«
    »Stimmt.«
    »Ich sag dir, was wir haben.« Viktor schnüffelte, als sie auf den Flur hinaustraten. »Katzen.«
    In Swetlanas Wohnung waren fünf Katzen. Man hatte sie seit mindestens einem Tag nicht gefüttert, das Katzenklo nicht gesäubert, und sie wuselten um Viktor herum, während er Milch in eine Untertasse goss. Viktor war, seltsam genug, ein Katzenmensch. Kein Bewunderer flauschiger Perserkatzen oder exotischer Siamesen, sondern halbwilder Überlebender der Straße. Sie fraßen Singvögel? Sollten sie doch. Viktors Lieblingsvögel waren Krähen.
    Swetlana war fort. Wie sich Arkadi erinnerte, hatte sie in der Wohnung mehr kampiert als gelebt. Sie hätte keine zehn Minuten gebraucht, ihre persönliche Habe in einen Koffer zu stopfen. Die Katzen miauten und schnurrten um die Schüssel, Milchtropfen an den Schnurrhaaren.
    Bei seinem ersten Besuch waren es sechs Katzen gewesen. Schneeflocke, Swetlanas Liebling, war verschwunden. Arkadi ging auf, dass eine Frau, die ihr Schoßtier mitnahm, nicht aufgegriffen worden war. Sie war auf der Flucht.
    »Vergiss nicht«, sagte Viktor, »selbst wenn die Wände mit Blut bespritzt wären, hättest du keine Berechtigung,