Tatjana
Leben aufs Spiel setzen. Für mich persönlich habe ich beschlossen, dass ich zu alt zum Sterben bin. Wenn man jung ist, weder Familie noch finanzielle Verpflichtungen hat, ist das leicht. In meinem Alter ist es ein Schlamassel. Kein Artikel ist das wert.« Obolenski rieb sich die blauen Flecken auf dem geschorenen Schädel. »Nichts im Vergleich zu einer angepieksten Lunge.« Er nahm eine Wodkaflasche und zwei Gläser aus einem Schreibtischfach. »Normalerweise trinke ich nicht mitten am Tag, aber da wir beide Überlebende der Schlacht am Megafon sind, möchte ich mit Ihnen anstoßen.«
»Eine Schlacht?« Arkadi fand das ein bisschen übertrieben.
Eine Wand von Obolenskis Büro war mit lobenden Erwähnungen von Nachrichtenagenturen und Journalistenschulen aus der ganzen Welt bedeckt. Zwei Fotos zeigten Obolenski und Tatjana Petrowna bei Preisverleihungen. Ein Ledersofa war durchgesessen und flach. Ein abgestorbener Benjamini stand verstaubt in der Ecke. Obolenskis Schreibtisch war halb unter einem Computer, Manuskripten und Büchern verborgen, die aus Regalen quollen. Alles in allem so ziemlich die Unordnung, die Arkadi in einem Chefredakteursbüro erwartete.
»Was ist passiert, nachdem Anja und ich fort waren?«, fragte er. »Haben Sie die Kameras und Handys zurückbekommen?«
»Erst als der Hauptmann alle Filme und Speicherkarten konfisziert hatte. Der Hauptmann hatte seinen Spaß. Er hat uns geraten, kein Theater wegen der Prügel zu machen, weil sie dann so richtig austeilen würden. ›Austeilen‹? Was soll das heißen? Was bleibt denn noch nach einem Mord? Inzwischen hat er uns wegen ungesetzlicher Versammlung und Verunglimpfung des Präsidentenamtes vorgeladen. Kein Wort über den Angriff auf uns. Ich bin für meine Leute verantwortlich. Ich möchte ihr Blut nicht an meinen Händen haben.«
»Haben Sie beim Staatsanwalt Beschwerde eingelegt?«
»Was sollte das schon nützen? Staatsanwälte, Ermittler, Miliz, das sind alles Diebe, Anwesende ausgeschlossen.« Nach nur zwei Gläsern Wodka wurde Obolenski emotional. »Renko, Sie und ich wissen, dass es bei unserer Demonstration um mehr ging als um Tatjana. Es ging um alle Journalisten, die angegriffen wurden. Da gibt es ein Muster. Ein Journalist wird ermordet, ein eher unwahrscheinlicher Verdächtiger wird verhaftet, vor Gericht gestellt und für unschuldig befunden. Und das war’s dann, nur dass wir die Botschaft kapieren. Bald gibt es nur noch deren Nachrichten und keine anderen. Die behaupten, das sei besser als eine freie Presse, es sei eine freie, aber ›verantwortungsvolle‹ Presse.« Er schenkte nachlässig ein und hob das Glas hoch. »Und die Nation macht weiter, mit verbundenen Augen.«
»Was ist mit Tatjana?«
»Tatjana war furchtlos. Unabhängig. Mit anderen Worten, ich konnte sie nicht aufhalten. Sie machte, was sie wollte. Sie flog nach Amerika, um einen wichtigen Menschenrechtspreis entgegenzunehmen, und als sie zurückkam, konnte sie über nichts anderes als Autoaufkleber reden. Sie sagte, wenn sie ein Auto hätte, würde sie einen Aufkleber mit der Aufschrift ›So viel Korruption, so wenig Zeit‹ anbringen. Ich glaube, sie wusste, dass ihre Zeit abgelaufen war. Warum hätte sie sonst in einem Haus neben Skinheads gewohnt?«
»Haben die sie je angegriffen?«
»Nein.«
»Könnte es sein, dass die Skinheads sie respektiert haben?«
»Warum nicht? Das sind Monster, aber trotzdem menschlich. Sie hat sich immer für die Benachteiligten eingesetzt.« Obolenski rückte näher. »Offiziell heißt es, Tatjana sei gesprungen und es werde keine Ermittlungen geben. Was machen Sie dann hier? Der Krieg ist vorbei.«
»Die Leute wissen nichts von der Demonstration«, sagte Arkadi.
»Und werden es auch nicht erfahren. Im Fernsehen war an dem Abend Putin beim Streicheln eines Tigerjungen zu sehen und Medwedew beim Blumenstecken. Übrigens wird Tatjana schon wieder vermisst.«
»Wieder?«
»Zuerst war sie in der falschen Schublade.« Obolenski füllte die Gläser nach. Bis zum Rand. »Jetzt ist sie vollkommen verschwunden.«
»Was soll das heißen?«
»Sie können sie nicht finden. Angeblich haben sie überall gesucht. Die führen uns doch nur am Schwanz herum. Anscheinend ist die Obrigkeit besorgt, dass jegliche Begräbnisstätte unserer Tatjana zu einer Art Schrein werden könnte. Sie jonglieren mit ihr, bis ihnen die Antwort einfällt.«
»Warum wird sie nicht eingeäschert?«
»Vielleicht haben sie das bereits getan, wer weiß? Aber da
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