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Tatjana

Tatjana

Titel: Tatjana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Cruz Smith
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ein System der Brutalisierung durch Unteroffiziere und Offiziere. Tägliches Schlagen mit Fäusten und Stühlen, nackt bei Eiseskälte im Freien stehen, das Ausprügeln auch des letzten Anzeichens von Intelligenz. Ein System, das Soldaten hervorbrachte, die desertierten, sich an ihren Gürteln erhängten oder ihre Waffen gegen Wodka eintauschten.
    »In sieben Monaten …«
    »Ich wünschte, mein Vater wäre hier«, sagte Schenja. »Er würde es mir erlauben.«
    »Tja, ist er aber nicht. Er schaufelt Kohlen in der Hölle. Ich werde nichts unterschreiben.«
    Arkadi versuchte, ruhig und vernünftig zu bleiben, doch er klang nicht so, nicht mal in den eigenen Ohren. Er klang wütend und frustriert. Zu hören, dass sein Vater als nachahmenswertes Modell herhalten sollte, brachte das Fass zum Überlaufen.
    »Ich habe dich nie um etwas gebeten.« Schenja klang genervt. »Du behauptest andauernd, du willst mir helfen, aber wenn ich dich einmal um etwas bitte, sagst du Nein.«
    Arkadi schaute sich nach etwas um, gegen das er treten konnte, obwohl ihn jede Dramatik lächerlich aussehen lassen würde. Er war nicht Schenjas Vater, und das war genau der Punkt, nicht wahr, um ihn zum Narren zu machen für seine Zuneigung. Wofür?, dachte Arkadi. Wenn man eine Schlange in ein Glas steckt, ist sie neun Jahre später immer noch eine Schlange. Schenja verdiente es, in der Armee zu sein. Trotzdem knüllte Arkadi den Brief zusammen und warf ihn in den Papierkorb.
    »Du kannst etwas Besseres erreichen.«
    »Als wärst du ein Vorbild«, sagte Schenja. »Der General war wenigstens jemand.«
    Erinnerung war eine Filmrolle, die immer wieder ablief, jedes Mal ein bisschen anders, bis sich die Einzelbilder überlappten. Wütend auf Schenja, fiel Arkadi eine Geschichte über seinen Vater ein, wie er witzelnd an einem Schachbrett saß und so tat, als wäre ein Glas Wodka eine der Schachfiguren. Der Gegner des Generals war ein in Gefangenschaft geratener SS -Offizier, kein schlechter Spieler, aber nicht mit der Wirkung von Wodka vertraut. Er lallte nur noch, als er die Partie verlor, und der General ließ ihn am Galgen baumeln, bis sich der Hals wie Karamell streckte.

7
    U m Viktor zu Tatjanas Wohnung zu bringen, musste Arkadi an den prüfenden Blicken der Skinheads vorbei.
    »Brauchst du Verstärkung?«
    Viktor schnaubte. »Blödsinn. Ich suche nach meinem Kätzchen Schneeflocke, zuletzt gesehen in Begleitung einer etwa zwanzigjährigen Frau mit kurzem, blond gefärbtem Haar, möglicherweise mit einem roten Koffer in der Hand.«
    »Das ist aber sehr sentimental.«
    »Eher die menschliche Natur«, meinte Viktor. »Menschen, die Jack the Ripper nie an die Polizei verraten würden, haben trotzdem eine Schwäche für Haustiere. Vor allem Katzenmenschen.«
    »Hast du nicht Katzen?«
    »Drei, aber das sind alles Straßenkatzen.«
    »Verwildert?«
    »Freilaufend.«
    Arkadi blickte sich um, als sie sich Tatjanas Mietshaus näherten. Er sah die Sackgasse zum ersten Mal bei Tageslicht und erkannte, dass es einst eine angenehme Wohngegend gewesen sein musste, mit Bänken für die Älteren, Klettergerüsten für die Kinder, Familien anstelle von Geistern.
    »Jenseits des hinteren Zauns ist die Baustelle, auf der die Skinheads kampieren.«
    »Gut zu wissen«, sagte Viktor.
    »Swetlana kommt dem, was man als Zeugin bezeichnen könnte, noch am nächsten.«
    »Ich weiß, ich weiß. Wir treffen uns in der Höhle.« Die Höhle war ein Restaurant hinter der Milizdirektion.
    »Kommst du klar?«
    »Bin auf alles vorbereitet.« Viktor schüttelte seinen Regenmantel, damit Arkadi die Mineralwasserdosen in den Taschen klappern hörte.
    Die Wolken waren mit Blitzen gespickt, genau wie Arkadis Privatleben. Er hielt sich beschäftigt, statt an Anja oder Schenja zu denken. Er versuchte Tatjanas Schwester telefonisch zu erreichen. Die Vorwahl der Nummer war 4012. Kaliningrad. Niemand nahm ab, und es gab keinen Anrufbeantworter.
    Er fuhr an den »Kontaktstellen« vorbei – den Unterführungen, Bushaltestellen und Fernfahrerkneipen, an denen sich Prostituierte sammelten. Nicht die exotischen Models, die in den vornehmen Foyers der Nobelhotels die Beine übereinanderschlugen und Verabredungen per Handy trafen. Die Mädchen hier waren minderjährig, unterernährt und gegen die Kälte in fadenscheinige Mäntel gehüllt. Bei jeder Kontaktstelle kamen sie an sein Auto und fragten nach seinen Wünschen, während ein Zuhälter sich wachsam in der Nähe hielt. Kein Wunder, dass der

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