Tatjana
ihm, damit Arkadi ihm Wodka oder Tee brachte, und der Junge erhaschte Blicke auf unwiderstehliche Fotos einer zerbombten Stadt, eine Sammlung deutscher Helme und zerfetzter Kampfstandarten. Das einzige Licht im Zimmer kam von einer Schreibtischlampe, und dort beschwor der General seine Feinde herauf.
Arkadi wartete auf eine Gelegenheit, und als die Tür einen Spalt breit offen stand, schlich er hinein. Er rannte durch das Zimmer, um alles in sich aufzunehmen, bis er zu Standarten mit Hakenkreuzen und Adlern kam. Eine SS -Standarte mit Schädel und gekreuzten Knochen faszinierte ihn am meisten. Der Stoff war Seide, steif von Blut. Er hörte den General erst zurückkommen, als er fast im Zimmer stand.
Arkadi huschte hinter die Vorhänge, bevor der alte Mann mit einer Wodkaflasche und einem Wasserglas hereinkam, das er erst einmal mit seinem Nachthemd sauber wischte. Jede Bewegung war ernst und feierlich, wie ein Priester bei der Kommunion. Er setzte sich und trank ein halbes Glas Wodka mit einem Schluck. Auf dem Schreibtisch standen eine Schreibmaschine und drei Telefone, weiß, schwarz und rot, in aufsteigender Wichtigkeit. Arkadi verhielt sich ganz still. Der General regte sich nicht, und Arkadi dachte, sein Vater sei eingeschlafen. Der Junge wartete auf eine Gelegenheit hinauszuschleichen, doch dann zuckte der General, murmelte oder füllte sein Glas nach. Er lachte. Wedelte auf unbestimmte Art mit der Hand. Schüttelte die Faust, als spräche er zu einer Menschenmenge. Ihm war zwar der Feldmarschallstab nicht verliehen worden, der ihm zustand, aber diejenigen, die Bescheid wussten, wussten es!
Das rote Telefon, die direkte Verbindung zum Kreml, hatte seit einem Jahr nicht mehr geklingelt. Trotzdem war er bereit. Brauchte nur in seine Uniform zu schlüpfen und sich zu rasieren.
»Wer ist da?«
Arkadi war sich nicht bewusst, ein Geräusch gemacht zu haben. Er hörte, wie der Stuhl des Generals zurückrollte und Schreibtischschubladen in rascher Folge aufgerissen und zugeknallt wurden. Er hörte, wie die Trommel eines Revolvers aufklickte und Patronen über den Schreibtisch rollten. »Bist du das, Fritz?«
Arkadi drückte sich tiefer in die Vorhänge.
»Ich will dir einen Rat geben, Fritz«, flüsterte der General. »Wenn du einen Mann töten willst, wenn du ganz sicher sein willst, geh nahe heran.«
Dem General gelang es nur, eine Patrone zu laden. Fünf rasselten auf den Boden. Trotzdem drückte er auf den Abzug. Das Patronenlager war leer, aber die Trommel drehte sich, und er drückte noch dreimal fest auf den Abzug, mit demselben Ergebnis. Arkadis Hilferufe wurden durch die schweren Vorhänge gedämpft, während der General den Stoff vor sein Gesicht hielt und erneut auf ein leeres Patronenlager klickte.
Arkadi befreite sich aus dem Vorhang und schrie: »Ich bin’s!«
Als sie sich direkt gegenüberstanden, richtete der General seine Waffe auf Arkadis Stirn.
Einen Moment lang blieben sie starr. Dann blinzelte der General wie jemand, der gerade wach geworden ist, und ein tiefes Stöhnen entrang sich seiner Brust. Er richtete den Revolver auf sich und drückte ab.
Die Welt blieb stehen. Die Augen des Generals waren fest zugekniffen, und sein Gesicht wurde kalkweiß, während er immer wieder auf den Abzug drückte, schweißnass, bis er die Waffe erschöpft sinken ließ.
Arkadi nahm ihm den Revolver aus der Hand und schob die Trommel auf.
»Sie hat sich verklemmt.«
Die Patrone steckte zwischen den Patronenlagern, was manchmal bei Revolvern passiert, wenn der Abzug zu schnell hintereinander gedrückt wird.
Mick, der Barmann, bediente andere Gäste, als Arkadi zum Pub zurückkam. Er sah in den Verkehr hinaus. Das war’s, worum es im Leben hauptsächlich ging, nichts zu tun, als vorbeifahrende Autos zu zählen. BMW , BMW , Mercedes, Lada, Volvo, Lada, BMW . Russische Autos starben wie Eingeborene, unter denen eine Seuche ausgebrochen war.
»Sie haben was vergessen.« Der Barmann brachte Arkadi ein Bier und tippte sich an den Kopf für seinen Scharfsinn. »Soweit ich mich erinnere, ging es um Fahrräder.«
»Besonders um eines.«
»Welches denn?«
»Ich weiß es nicht, weil ich nicht weiß, was ich da sehe. Sagen Sie’s mir.« Diesmal hatte Arkadi das Notizbuch mitgebracht. Er blätterte bis zur Rückseite mit der Liste von Zahlen, Umrissen von einer mehrfach gezeichneten Katze und einem doppelten Dreieck.
»Ist das ein Fahrradrahmen?«
»Klar.«
»Und Katzen.«
»Das sind keine Katzen. Das sind
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