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Tatjana

Tatjana

Titel: Tatjana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Cruz Smith
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verfügte die Poliklinik über genügend Vorräte. In Wirklichkeit waren die Schränke leer, die Medikamente waren durch die Hintertür verschwunden.
    War Irina allergisch gegen Penizillin? So stark, dass sie die Wörter auf dem Aufnahmebogen unterstrichen hatte. Aber die Gedanken der Krankenschwester waren bei einem Brief, den sie an diesem Tag bekommen hatte und der ihr mitteilte, ihr Sohn habe ihre Wohnung verkauft und ihr bleibe eine Woche zum Packen. Das einzige Wort, das sie hörte, war »Penizillin«. Da der Poliklinik die oralen Dosen ausgegangen waren, gab sie Irina eine Spritze und verließ den Raum. Als Arkadi mit einer Zeitung und einer Zeitschrift wiederkam, war Irina tot.
    Eingewickelt in ein feuchtes Tuch, sah sie aus, als wäre sie an ein Ufer gespült worden. Als sich ihre Luftröhre in einem anaphylaktischen Schock zu schließen begann, hatte Irina anscheinend den Irrtum der Krankenschwester erkannt und war mit der Ampulle in der Hand aus dem Untersuchungszimmer gekommen. Eine Gegeninjektion mit Adrenalin hätte sie gerettet. In seiner Panik brach der Arzt den Schlüssel vom Medikamentenschrank ab und besiegelte damit ihr Schicksal. Sie sah es. Sie wusste es.
    Als Arkadi ihr die Augen schloss, schnauzte der Arzt ihn an, er solle den »Korpus« nicht berühren. Arkadis Gesicht wurde finster, seine Hände wurden zu Klauen, und er schleuderte den Arzt gegen die Wand. Der Rest der Belegschaft zog sich in den Flur zurück und rief die Miliz, um mit dem Verrückten fertig zu werden. Bis zu deren Eintreffen saß Arkadi bei Irina und hielt ihre Hand, als würden sie zusammen irgendwohin gehen.
    Tatjana erinnerte ihn an Irina. Sie waren beide furchtlos und idealistisch. Und tot, räumte Arkadi ein.
    Das Telefon ließ ihn zusammenschrecken. Maxim Dal war dran, der Dichter.
    »Rufen Sie bei allen mitten in der Nacht an?«, fragte Arkadi.
    »Nur Nachtmenschen. Dabei irre ich mich selten. Die Blässe, das Schweigen, die Unterernährung – Sie weisen alle Symptome auf. Haben Sie eine Mikrowelle?«
    »Selbstverständlich.«
    »Ich wette mit Ihnen um fünfzig Rubel, dass Sie irgendwas Essbares in der Mikrowelle vergessen haben.«
    Arkadi öffnete die Mikrowelle. Drinnen stand eine verschrumpelte Enchilada. »Was wollen Sie?«
    »Erinnern Sie sich an unser Gespräch über Tatjanas Notizbuch?«
    »Ihnen ging es um irgendeinen amerikanischen Preis für Ihr Lebenswerk?«
    »Dafür, am Leben zu sein, ja. Erinnern Sie sich, dass ich Sie nach Tatjanas Notizbuch gefragt habe und ob ich darin erwähnt bin?«
    »Was spielt das für eine Rolle? Sie haben mir erzählt, Sie hätten vor zwanzig Jahren eine kurzfristige romantische Affäre mit ihr gehabt.«
    »Das ist das Problem. Damals war ich Professor, und Tatjana war eine junge Studentin. Amerikanische Universitäten schätzen solche Liebesverhältnisse nicht. Das sind Puritaner. Wenn es auch nur den Hauch eines Skandals gibt, kann ich mir den Preis abschminken.«
    »Haben Sie in Ihrer Laufbahn nicht genug Ehrungen bekommen?«
    »Ich saß eine Weile auf dem Trockenen. Zum Teufel mit der Ehre. Hier geht es um fünfzigtausend Dollar als Gastdichter in Amerika oder eine Bettelschale in Kaliningrad. Waren Sie schon mal in Kaliningrad?«
    »Noch nie.«
    »Da gibt es keine Sicherheit mehr. Ist nicht mehr wie früher, als Mitglieder der Schriftstellergewerkschaft eine ›Ode an die Steckrübe‹ schreiben konnten und dafür bezahlt wurden. Es ist auch nicht wie Moskau. Kaliningrad ist eine eigene Welt. Wirklich, sollten Sie je dorthin kommen, müssen Sie sich von mir herumführen lassen.«
    Arkadi gähnte. Seine Augen fühlten sich an, als würden sie ihm in den Kopf sinken. »Ich glaube nicht. Wie sollten die Amerikaner überhaupt von dem Notizbuch erfahren?«
    »Durch andere Dichter. Ich bin nicht der einzige Kandidat.«
    »Ich wusste gar nicht, dass Dichten eine so mörderische Tätigkeit ist. Sie haben bestimmt nichts zu befürchten. Sind ja nur ein paar Seiten, und ich haben Ihren Namen nicht gesehen.«
    »Haben Sie das Notizbuch?«
    »Ja, unter Verschluss.«
    »Haben Sie es gelesen?«
    »Nein. Niemand kann es. Beruhigen Sie sich. Gute Nacht.«
    Arkadi wollte gerade zu Bett gehen, als Viktor anrief, um sich für einige seiner Bemerkungen zu entschuldigen.
    »Dir steht eine eigene Meinung zu. Wir reden morgen.«
    »Warte, ich hab mich einfach danebenbenommen. Lag an deiner Fixiertheit auf Kaliningrad. Du weißt doch, dass ich während meiner Marinezeit da stationiert war. War

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