Tatjana
ein streng geheimes Scheißloch. Man konnte die Stadt nicht mal auf der Karte finden.«
»Danke.« Arkadi betrachtete es als Vertrauensvotum.
»Noch was, das ich zu erwähnen vergessen hab. Ich habe Schenja heute in deiner Straße gesehen. Hast du mit ihm gesprochen?«
»Nein. Wo war er?«
»Vor deinem Haus.«
»Hat er dich gesehen?«
»Glaube schon, weil er sich weggeduckt hat wie ein Eichhörnchen.«
»Typisch.«
»Ich dachte, ich sage es dir.«
Kaum hatte sein Kopf das Kissen berührt, schlief Arkadi ein. Er hatte das Gefühl, in ein Spinnennetz gewickelt zu sein, aber angenehm. Gemütlich. Eingehüllt. Dann ein Sturz in die schwarze Tiefe, ein kalter Wind auf seinem Gesicht. Doch nach wie vor keine Beschwerden. Wenn das Schlaf war, dann sollte es so sein. Hoch oben ein verlöschender Lichtpunkt. Darunter eine unsichtbare Stadt.
Die Stadt breitete sich aus und wurde flüssig. Arkadi machte einen Platscher und wurde zum Torpedo, der auf die Umrisse eines Schiffes zuraste. Seltsam, dass Tatjana sich auf ein U-Boot-Unglück konzentriert hatte, das zwölf Jahre zurücklag. »Eichhörnchen« beschrieb Schenja perfekt.
Schenja.
Arkadi riss die Augen auf. Er schwang sich aus dem Bett, ging in sein Arbeitszimmer und knipste auf dem Weg alle Lampen an. Der Schreibtisch war aus Mahagoni mit Messingbeschlägen, und das rechte untere Fach hatte eine aufgesetzte Tür, hinter der sich ein Safe befand, dessen Kombination nur er kannte. Trotzdem hielt er den Atem an, als er am Griff zog und ihn geschlossen fand.
Vielleicht war Schenja nur in der Nachbarschaft gewesen oder vorbeigekommen, während Arkadi fort war. Erklärungen gab es jede Menge, nur glaubte Arkadi an keine einzige.
Als er das Schloss drehte, hörte er die Zuhaltungen fallen: zwei Drehungen nach rechts, zwei nach links, eine nach rechts. Mit einem leisen »Popp« glitt die Tür auf.
Seine Waffe, eine ihm verliehene Makarow, lag unten im Safe, aber das Notizbuch war weg. Stattdessen lag da das Formular für elterliche Zustimmung zum vorzeitigen Eintritt in die Armee und wartete auf eine Unterschrift.
13
S chenja lebte aus Bahnhofsschließfächern und zockte Leute beim Schachspielen ab. Keine mühsamen Vier-Stunden-Partien mit verhakten Geweihen, sondern Blitzschach: vierzig Züge in fünf Minuten. Er nahm einem Schiffskoch, der auf den Zug nach Archangelsk wartete, fünfzig Dollar ab und einem Ölarbeiter auf dem Weg zu den Bohrstellen in Samarkand genauso viel. Schenjas Finger bewegten sich im Pizzikato, klaubten die Figuren vom Brett. Abfahrt in zehn Minuten? Schenja konnte noch zwei Spiele unterbringen, vielleicht drei.
Am liebsten ging er in einen kleinen Park, genannt der Patriarchenteich, in einem Viertel mit Botschaften, Stadthäusern und Straßencafés. Er setzte sich auf eine Bank, stellte sein Brett und die Figuren auf, als grübelte er über eine schwierige Stellung. Früher oder später kam immer jemand vorbei, der stehen blieb, um ihm Ratschläge zu geben.
Dazwischen erfreute er sich an den Schwänen und Enten auf dem Teich – Stockenten, Schellenten, Krickenten – mit ihrem schillernden Gefieder. Er kannte alle Namen der Wasservögel und der Bäume. Als ein Junge Schraubverschlüsse nach den Schwänen schnippte und am Ohr weggezogen wurde, fand das Schenjas uneingeschränkte Zustimmung. Eine Brise trieb herabgefallene Blätter in eine Ecke des Teichs. Wind raschelte in den Bäumen.
In der Nähe befand sich der Fachbereich für Architektur der Universität, und in der Mittagspause sammelten sich Studenten um die Bänke. Obwohl sie nur zwei Jahre älter waren als Schenja, waren sie viel weltmännischer und mondäner als er. Sämtliche Studenten, ob männlich oder weiblich, hatten offene Bierflaschen in der Hand und posierten lässig wie Models aus Hochglanzmagazinen. Ihre Jeans waren an den Knien zerrissen, weil es modisch war. Seine Jeans waren einfach durchgescheuert. Sie behandelten ihn nicht von oben herab, sondern sahen ihn einfach nicht. Und worüber hätten sie sich auch mit ihm unterhalten sollen, wenn sie Notiz von ihm genommen hätten? Über Schnorcheln vor der Küste von Mexiko? Skifahren in Chamonix? Zu der Gruppe gehörte ein halbes Dutzend Mädchen, unter ihnen auch eine Rothaarige mit milchweißer Haut, die so schön war, dass Schenja sie nur anstarren konnte. Sie flüsterte hinter vorgehaltener Hand, und Schenja sah, wie das Flüstern durch die ganze Gruppe lief.
»Entschuldige.«
»Was ist?« Schenja fuhr
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