Tatjana
zusammen, als ein Junge ihn ansprach. Er war der größte aus der Gruppe und trug ein Stanford-Sweatshirt.
»Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken, aber bist du nicht das Schachmonster?«
»Was bin ich?«
Andere Gespräche verstummten.
»Wir haben dich in verschiedenen Bahnhöfen gesehen, wie du Leute beim Schach abgezockt hast. Hier machst du genau dasselbe. Was soll das eigentlich?«
Schenja fühlte sich wie ein Insekt unter einem Mikroskop.
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«
»Klar weißt du das. Du machst es jetzt schon wieder. Deswegen nennen wir dich das Schachmonster.«
Schenja erhob sich mit hochrotem Gesicht. Trotzdem ragte der Stanford-Junge über ihm auf und sagte: »Ganz ruhig, ich will dir nichts tun. Ich will bloß wissen, ob du das Schachmonster bist. Aus deinem Mund. Nein?« Mr. Stanford wandte sich an die Rothaarige. »Lotte, ist er das Monster oder nicht?«
Sie rief: »Das Wort, das ich verwendet habe …«
In diesem Moment kam der Schwan aus dem Wasser, zischend, die Schwingen ausgebreitet, den Hals gereckt wie eine Schlange, um den Bengel zu verjagen, der ihn zuvor gepiesackt hatte. Als die Architekturstudenten auseinanderstoben, fiel das Schachbrett von der Bank, und die Figuren purzelten nach allen Seiten.
Schenja blieb allein zurück, suchte den Pfad, das Gras und herabgefallene Blätter nach Königen und Königinnen ab. Er fand alle Figuren, bis auf einen schwarzen Bauern, der außer Reichweite im Teich dümpelte.
»Monster«, hallte es in Schenjas Kopf.
Er stopfte alles in den Rucksack und schob das Notizbuch zur Seite, das er aus Arkadis Schreibtisch geklaut hatte. Das Ding war ein Rätsel ohne Hinweise, eine Denksportaufgabe ohne Lösungsansatz, doch es diente seinem Zweck, wenn es Arkadi dazu zwang, die Formulare für die frühzeitige Verpflichtung zum Militär zu unterschreiben. Schenja hatte schon so lange die Schule geschwänzt, dass er nicht mehr registriert war und keine Zukunft sah. Wie lange konnte er davon leben, erschöpfte Reisende mit Schachpartien abzuzocken? Die meisten jungen Leute, die durch die Bahnhöfe kamen, hingen an ihren iPhones. Manche kannten nicht mal die einfachsten Eröffnungszüge im Schach, dem russischsten aller Intelligenztests. Ohne Diplom würde sich Schenja mit Tadschiken und Usbeken darum schlagen müssen, einen Besen zu schieben. Seine anderen Möglichkeiten waren die Armee oder die Polizei. Letzteres würde er ganz sicher nicht tun. Die Aufklärungsrate professioneller Mordfälle lag bei vier Prozent. Wie konnten sie sich da auch nur Polizei nennen?
14
E in Pathologe hat keinen Respekt vor Menschen. Für ihn sind Helden, Tyrannen und Heilige nur Fleisch auf einem Obduktionstisch. Lebend konnten sie sich mit militärischen Orden geschmückt oder den Talar eines Professors getragen haben. Tot quollen ihre Geheimnisse als käsige Fettrollen hervor, als geschwärzte Leber, das zarte Gehirn freigelegt in seiner Schale. Mehr nicht.
Dass Willi Pasenko noch lebte, war eine Erleichterung für die anderen Pathologen, denn keiner wollte einen Kollegen aufschneiden. Er hatte seinen Teil dazu beigetragen, hatte über vierzig Kilo abgenommen, machte schnaufend und keuchend seine Übungen in den schwach erleuchteten Räumen des Leichenschauhauses wie ein halb entleerter Ballon in Zeitlupe. Tatjanas Leiche war gefunden worden, und nicht nur das, sondern auch kremiert, und ihre Asche ruhte in einer Pappschachtel mit der Aufschrift »Unbekannte weibliche Person #13312«.
Willi schlug Arkadi vor: »Du kannst die Schachtel zu einer Urne aus Keramik oder Holz aufrüsten. Die meisten wählen Holz.«
»Ich hab dir doch gesagt, sie sollte nicht eingeäschert werden.«
»Ich weiß, ich weiß. Das ist passiert, als ich nicht da war. Die Hälfte der Assistenten sind Tadschiken. Wenn du denen eine Anweisung gibst und sie nicken, heißt das, sie haben kein Wort von dem verstanden, was du gesagt hast. Außerdem hat zwei Wochen lang niemand Anspruch auf die Leiche erhoben, und du weißt, wie das ist, die Frucht, die am tiefsten hängt, wird zuerst gepflückt.«
»Aber einäschern?«
Willi sah in einer Mappe nach. »Sie wurde von ihrer Schwester identifiziert, ihrer einzigen Verwandten. Die hat das verlangt.«
»Ihre Schwester war hier in Moskau?«
»Nein. Ihr ging es nicht gut genug, um von Kaliningrad hierher zu reisen, also hat sie die Identifizierung von zu Hause per Telefon vorgenommen.«
»Mit einem Handy? Wir sind hier in einem Tunnel, und
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