Tatjana
hatte gelesen, dass auditive Halluzinationen subtiler und stärker waren als ihre visuellen Gegenstücke. Gelegentlich hörte er immer noch seine Frau Irina. Was verrückt war, denn sie war tot.
Auf den letzten Kassetten klang Tatjana müde und abgespannt, nicht mehr so wachsam.
»Man erwartet von mir, immer so ernst zu sein, aber ich habe die Ernsthaftigkeit satt. Habe es satt, die Mater Dolorosa zu sein. Tatjana Petrowna zu sein. Lieber würde ich mich mit den Zigeunern davonstehlen. Vielleicht bin ich verrückt. Ich sehne mich nach einem Mann, dem ich nie begegnet bin.«
Das sagte genug, dachte Arkadi. Doch da war noch die allerletzte Kassette mit dem metallischen Klopfen, so schwach, dass es sich kaum lohnte, es aufzunehmen. Arkadi wühlte in Schenjas Karton mit aussortierter Computerausrüstung, USB -Anschlüssen, Bändern, Kopfhörern, Disketten, elektronischen Schachbrettern. Was Schenja konnte, konnte er auch. Er hatte oft genug gesehen, wie Schenja die Klangverstärker an seinen Kopfhörer anschloss. Arkadi verband sie mit dem Rekorder und lauschte.
Stille. Vakuum. Ein verstärktes, dreimaliges Klopfen von Metall auf Metall. Dann drei Kratzer. Stille. Klopf, klopf, klopf.
Arkadis Vater hatte ihm eine Reihe nützlicher Dinge beigebracht. Wie man eine Waffe zerlegt, mit Flaggen signalisiert, Morsezeichen sendet.
Das Klopfen und Kratzen waren immer dieselben Morsezeichen, die bedeuteten: »Wir sind am Leben.«
Das Atom-U-Boot Kursk war mit einhundertachtzehn Offizieren und Matrosen auf dem Weg zu Manövern in arktischen Gewässern, als aus ungeklärten Gründen die Bugtorpedos explodierten und Feuer im ganzen Schiff ausbrach. Die Mannschaft war nach den höchsten Traditionen der russischen Marine vorgegangen und wurde posthum mit Tapferkeitsorden ausgezeichnet. Den Familien wurde versichert, die gesamte Mannschaft sei fast augenblicklich gestorben.
Klopf. Klopf. Kratz.
Der Leiter der Rettungsmannschaft berichtete, er habe Klopfen in Sektion 9 des U-Boots am hinteren Ende des Rumpfs gehört.
»Alles wurde unternommen. Die Menschen sollten ruhig bleiben und ihre Posten nicht verlassen«, verkündete der Ministerpräsident und gab eine Grillparty in einer Villa am Schwarzen Meer.
Klopf … Klopf …
Bei einer Pressekonferenz verlangte die Mutter eines Matrosen, die Wahrheit zu erfahren. Sie wurde gewaltsam sediert und aus dem Saal gezerrt. Der Leiter der Rettungsmannschaft gab an, er müsse die Lebenszeichen in Sektion 9 wohl falsch verstanden haben.
Das Klopfen hörte auf.
Schließlich, zehn Tage nach dem Unglück, gelang es norwegischen Tauchern, die Ausstiegsluke zu öffnen. Sie fanden eine in Plastik gehüllte Notiz an der Leiche eines aus Sektion 9 geborgenen Matrosen. Er hatte die Vorgänge aufgezeichnet und sie mit 15:15 datiert, vier Stunden nach der Explosion. Einige Experten glaubten, dass die dreiundzwanzig Männer vielleicht noch drei bis vier Tage gelebt hatten.
Auf dem Etikett der Kassette stand »Grischa«, obwohl Arkadi die Verbindung zur Kursk wie ein Fisch aus den Händen glitt.
12
A rkadis Frau Irina war schon vor Jahren gestorben. Trotz dem musste er jedes Mal, wenn er eine Stimme wie ihre im Trubel der Metro hörte oder eine schöne Frau vorübergehen sah, an sie denken. Als sie noch lebte, war es ein Rätsel, warum eine so intelligente Frau wie sie sich entschlossen hatte, ihr Schicksal mit einem Mann mit so geringen Aussichten wie Arkadi zu teilen. Später sprach er nie über sie, aus Furcht, ihren Tod zu einer »Geschichte« zu machen, die durch das Erzählen unwiderruflich verändert würde, so wie eine jahrelang benutzte Goldmünze glatt und gesichtslos wird.
Arkadi erinnerte sich noch an jede Einzelheit.
Sie wollten zum Essen ausgehen und dann ins Kino. Irina hatte eine leichte Infektion, und es war Arkadis Idee gewesen, für ein Antibiotikum bei der örtlichen Poliklinik haltzumachen. Das Wartezimmer war voller Skater, Betrunkener und Großmütter mit schniefenden Kindern an der Hand. Irina bat Arkadi hinauszugehen und einen Zeitungskiosk zu suchen. Sie war Journalistin, und keine Zeitung zu haben war für sie, als müsste sie ohne Sauerstoff leben.
Er wusste noch, wie mild der Abend gewesen war, flauschige Pappelsamen wehten durch die Luft, und an die Bäume waren Zettel geheftet, die Medikamente zum Verkauf anboten.
Mittlerweile hatte sich der Warteraum geleert, und Irina wurde ins Untersuchungszimmmer gerufen. Der Arzt verschrieb ihr Bactrim. Den Unterlagen nach
Weitere Kostenlose Bücher