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Tatjana

Tatjana

Titel: Tatjana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Cruz Smith
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waren wie Marie Antoinette kostümiert, mit Goldstaub im Haar und sorgsam im Dekolleté platzierten Schönheitspflästerchen. In einem goldenen Käfig mitten im Zimmer öffnete eine mechanische Nachtigall den Schnabel und trällerte.
    »Das macht meine nassen Füße beinahe wett«, sagte Maxim. »Vielleicht hilft ein wenige Fois gras und Ente à l’orange.«
    »Und vielleicht können Sie mir erzählen, warum Kinder von einem Kastenwagen mit einem Schwein gejagt werden.«
    »Bernstein.«
    »Das ist nicht Ihr Ernst.«
    »Allerdings. Als hier der Deutschritterorden herrschte, wurden jedem die Hände abgehackt, der unerlaubt Bernstein sammelte. Der Wagen hat vermutlich nur versucht, die Kinder zu verscheuchen.«
    »Für mein Gefühl ging es darüber hinaus. Ich reagiere sehr sensibel auf alles, was mich jagt.«
    »Ist in Ihrem Beruf wahrscheinlich eine Gabe. Zahlen Sie? Ich werde gesprächiger, wenn ich gut gesättigt und trocken bin.«
    »Tun Sie sich keinen Zwang an.«
    »Hervorragend. Hier kommt unsere Kellnerin.«
    Maxim bestellte sich das Festmahl, das er sich versprochen hatte. Arkadi begnügte sich mit Wodka, Schwarzbrot und Butter.
    »War es das?«, fragte er.
    »Was?«
    »Das achte Weltwunder?«
    »Schätze schon. Stellen Sie sich Wände aus schimmerndem Bernstein vor, Blattgold, venezianische Spiegel und Mosaike aus Halbedelsteinen. Die Menschen sagten, wenn die Sonne durch die Fenster des Palastes schien, sah es aus, als ginge das Bernsteinzimmer in Flammen auf. Es war das Lieblingszimmer von Katharina der Großen. Leider war es auch die Lieblingskriegsbeute der Nazis. Das Zimmer wurde zerlegt und in einem Bunker versteckt, in einem Brunnen, im Schwarzwald oder auf einem Eisbrecher fortgeschafft, vielleicht auch in einem U-Boot. Stellen Sie sich vor, wie das Bernsteinzimmer im Dunkeln auf dem Meeresboden ruht. Wie ein Samenkorn.«
    Maxim dabei zu beobachten, wie er das Essen auf seinem Teller herumschob, erinnerte Arkadi an die Bagger im Tagebaubergwerk. Maxim wiederum fand es quälend zu sehen, dass Arkadi nur so wenig aß.
    »Es gibt zwei Arten von Dichtern. Den hungernden Dichter und den geilen, zügellosen. Ich ziehe Letzteren vor.« Er winkte dem Sommelier.
    »Wie ein Samenkorn«, sagte Arkadi. »Was haben Sie damit gemeint?«
    »Eine weitverbreitete Metapher. Bernstein unterscheidet sich von Diamanten, Saphiren und Rubinen dadurch, dass er ein Lebenszeichen in sich tragen kann. Vor fünfzig Millionen Jahren war es Harz, das von einer Kiefer tropfte und manchmal andere Lebensformen in sich einschloss. Stellen Sie sich einen Diamanten mit einer Mücke darin vor. Gibt es nicht. Deswegen hat Grischa sich gewehrt, als sich andere Mafiagangs in den Bernsteinhandel drängen wollten.«
    »Aus wissenschaftlichem Interesse?«
    »Nicht so ganz. Da gab es ein Ziehen und Zerren, genannt der Bernsteinkrieg.«
    »Klingt fast idyllisch.«
    »War in Wirklichkeit ziemlich blutig. Möchten Sie eine Charlotte Russe? Die Crème ist hier wirklich gut.«
    »Ist der Bernsteinkrieg beendet?«
    »Wir nehmen die Petits Fours und die Crème«, sagte Maxim zu der Kellnerin und seufzte, als sie einen Knicks machte und ihr Busen fast heraushüpfte. Er blickte Arkadi vielsagend an. »Was interessiert Sie der Krieg? Ich dachte, Sie würden nur die Umstände von Tatjana Petrownas Tod untersuchen.«
    »Ihr Tod wird immer seltsamer und hat genauso viel mit Kaliningrad zu tun wie mit Moskau.«
    »Auf welche Weise?«
    »Das Notizbuch des Dolmetschers.«
    »Das in diesem Moment von Experten dekodiert wird?«
    »Nehme ich an.«
    »Warum habe ich das Gefühl, dass große Haufen Pferdeäpfel um mich aufgetürmt werden?«
    »Weil Sie ein Dichter sind.«
    Schenja und Lotte drangen in die Tiefe der russischen Sprache vor. Jede Auslegung rief zwei weitere hervor, die sich nur wieder vervielfachten. Sie verfolgten Ströme von Wörtern, die sich auf die lebenslange Erfahrung eines anderen beziehen konnten, alles, was in Verbindung mit einem der Symbole oder all dem Unbekannten aus der Herkunft des Dolmetschers stehen könnte: ein aufgeschrammtes Knie, eine reife Feige, eine Gutenachtgeschichte.
    Sie suchten nach Gedächtnisstützen, nach Botschaften eines Mannes an sich selbst in einer Welt von Symbolen und Wörtern, aus denen er wählen konnte. Gott behüte, wenn die Wörter aus einer anderen Sprache stammten, und ein professioneller Dolmetscher sprach mindestens fünf.
    Selbst ein einfacher Pfeil konnte der obere Teil eines Kindes sein, ein

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