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Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras

Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras

Titel: Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Koeppen
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schreiben würde, in einer Nacht, doch nicht an vielen Tagen, nicht in einer Art Dienst, nicht mit dem stetigen Geklapper der kleinen Schreibmaschine. »Er ist unfähig. Ich hasse dich«, flüsterte sie, »ich hasse dich!« Er war gegangen. Er war ihr entlaufen. Er würde wiederkommen. Wo sollte er hingehen? Aber er war gegangen; er hatte sie allein gelassen. War sie so unerträglich? Sie stand nackend in dem Arbeitsraum, nackt in dem Tageslicht, eine Straßenbahn fuhr vorüber, Emilias Schultern sackten ein, die Schlüsselbeinknochen traten hervor,ihr Fleisch verlor an Frische, und ihre Haut, ihre Jugend, war wie mit abgestandener, mit geronnener Milch übergössen, für eine Sekunde käsig, säuerlich, krümelig. Sie legte sich auf das rillige Ledersofa, das fest und kalt wie ein Doktorbett und darum ihr unheimlich war, und sie dachte an Philipp, zauberte ihn durch Denken herbei, zwang ihn in den Raum zurück, den Komischen, den Unfähigen, den Nicht-Geschäftsmann, den Gefährten, den Geliebten und Gehaßten, den Schänder und Geschändeten. Sie steckte einen Finger in den Mund, umzüngelte ihn, feuchtete ihn an, ein kleines Mädchen, nachdenklich, verlassen, ratlos, streichele-mich, sie nahm den Finger, spielte an sich, ließ ihn in sich eindringen und fiel in die tiefe Betäubung der Lust, die ihr, dem Tag zwar schon preisgegeben und von seinem Schein schon feindlich überschüttet, noch ein Stück innerer Nacht gewährte, eine Spanne Heimlichkeit und Liebe, ein Hinauszögern -
    Night-and-day. Odysseus sah herab auf die rote Mütze des Dienstmannes, auf das vielbefleckte brüchige Tuch, er sah den militärisch grade über Brille und Augen gesetzten Mützenschirm, er sah die Messingnummer, erkannte die müden Schultern, die schäbige Wolle des Rockes, die ausgefransten Bänder der Schürze und erblickte schließlich ein Bäuchlein, kaum wert, es zu erwähnen. Odysseus lachte. Er lachte wie ein Kind, das schnell Bekanntschaft schließt, er empfand, kindlich, den Alten als altes Kind, als Spielgefährten der Straße. Odysseus freute sich, er war gutmütig er begrüßte den Gefährten, er gab ihm etwas ab aus seiner augenblicklichen Fülle, gab ihm etwas von der Siegerposition, ließ ihm den Koffer: die Musik, die Stimme, sie hing in des alten Dienstmannes Hand. Tapfer, ein kleiner schmächtiger Schatten, schritt Josef neben der hohen breiten Gestalt des Soldaten über den Bahnhofsplatz. Aus dem Koffer gellte, knarrte, quietschte es: Limehouse-Blues. Josef folgte dem schwarzen Mann, er folgte dem Befreier,dem Eroberer, folgte der Schutz- und Besatzungsmacht in die Stadt.
    Ein Schrein, ein Altarschrein, ein ernster Schatten, Moder vermeintlicher und wieder verworfener Erkenntnis, eine wahrgenommene und nicht wahrgenommene Bedrohung, Brunnen der Hoffnung, täuschender Quell für die Dürstenden: mit seinen geöffneten Flügeln war der Bücherschrank ein unheiliges Triptychon der Schrift hinter der nackten Emilia. Für wen opferte sie sich, Priester in und Hirschkuh in einer Gestalt, eine verkommene Iphigenie, von keiner Artemis beschützt, nach keinem Taurien entrückt? Die geerbten Bücher, die Prachteinbände der achtziger Jahre, die unberührten Goldschnittausgaben, die deutschen Klassiker und der Pharus-am-Meer-des-Lebens für den Salon der Dame, der Kampf-um-Rom und Bismarcks-Gedanken-und-Erinnerungen für das Herrenzimmer und dazu das Fach mit dem Cognac und den Zigarren, die Bibliothek der Vorfahren, die Geld verdient und nicht gelesen hatten, stand neben Philipps, des unermüdlichen Lesers, ins Haus getragener Büchersammlung voll Unrast und Zergliederung, das entblößte Herz, der sezierte Trieb. Und vor ihnen, den prächtig gebundenen und den zerlesenen vergebens befragten Bänden, vor ihnen und zu ihren Füßen gewissermaßen ruhte die Unbekleidete, die Erbin, die Hand zwischen den kindlich gebliebenen Schenkeln, und suchte zu vergessen, zu vergessen was man nun Wirklichkeit nannte und Härte des Lebens und Lebenskampf und soziale Eingliederung und Behude sprach von der nicht gelungenen Anpassung an die Umwelt und alles bedeutete doch nur, daß es ein schlechtes Leben war, eine verfluchte Welt und die Sonderstellung verloren, das Fein-heraus-sein durch die glückliche Geburt, den Fall ins wohl bereitete Nest, was war nun am törichten Schmeichelschwall um ihr Kindesalter? ›Du bist reich, Schöne, du erbst, Hübsche, erbst das Großmütterleinvermögen, die Kommerzienratsfabrikmillionen, er dachte an dich,

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