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Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras

Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras

Titel: Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Koeppen
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fühlte sich frei von Feindschaft und Vorurteilen, nicht Haß und Verachtung belasteten ihn. Die Mißgefühle waren Giftstoffe, von der Zivilisation überwundene Krankheiten wie Pest, Cholera und Pocken. Richard war geimpft, er war hygienisch erzogen und ausgeschlackt. Vielleicht würde er herablassend sein, ohne herablassend sein zu wollen, denn er war jung, überschätzte das Jungsein und blickte herab, blickte herab auf sie in aller Tatsächlichkeit, herab auf ihre Länder, ihre Könige, ihre Grenzen, ihren Hader, ihre Philosophen, ihre Gräber, ihren ganzen ästhetischen, pädagogischen, gedanklichen Humus, ihre ewigen Kriege und Revolutionen, er blickte herab auf ein einziges lächerliches Schlachtfeld, die Erde lag unter ihm wie auf einem Chirurgentisch: arg zerschnitten. Natürlich sah er es nicht wirklich so; er sah weder Könige noch Grenzen, wo vorläufig nur Nebel und Nacht war, auch sein geistiges Auge stellte es sich nicht vor, sein Schulwissen war es, das den Erdteil so sah. Geschichte war Vergangenheit, die Welt von gestern, Jahreszahlen in Büchern, eine Kindermarter, jeder Tag aber bildete auch wieder Geschichte, neue Geschichte,Geschichte im Präsens, und das bedeutete Dabeisein, Werden, Wachsen, Handeln und Fliegen. Man wußte nicht immer, wohin man flog. Erst morgen würde alles seinen historischen Namen erhalten, mit dem Namen seinen Sinn, würde echte Geschichte werden, in Schulbüchern altern, und dieser Tag, dies Heute, dieser Morgen würde einst für ihn ›meine Jugend‹ sein. Er war jung, er war neugierig, er würde sich's anschauen: das Land der Väter. Es war eine Morgenlandfahrt. Kreuzritter der Ordnung waren sie, Ritter der Vernunft, der Nützlichkeit und angemessener bürgerlicher Freiheit: sie suchten kein Heiliges Grab. Es war Nacht, als sie das Festland erreichten. Am klaren Himmel leuchtete vor ihnen ein frostiges Licht: der Morgenstern, Phospheros, Luzifer, der Lichtbringer der antiken Welt. Er wurde zum Fürsten der Finsternis. Nacht und Nebel lagen über Belgien, über Brügge, Brüssel und Gent. Der Dom zu Köln hob sich aus dem Morgengrauen. Das Morgenrot löste sich wie eine Eischale von der Welt: der neue Tag war geboren. Sie flogen den Rhein aufwärts. Lieb-Vaterland-magst-ruhig-sein-fest-steht-und-treu-die-Wacht-am-Rhein: Lied des Vaters, als er achtzehn war, Lied des Wilhelm Kirsch in Schulklassen, in Kasernenstuben, auf dem Exerzierplatz, auf Märschen gesungen, Wacht des Vaters, Wacht des Großvaters, Wacht des Urgroßvaters, Wacht am Rhein, Wacht von Brüdern, Wacht von Vettern, Wacht am Rhein, Grab von Ahnen, Grab der Blutsverwandten, Wacht am Rhein, nicht erfüllte Wacht, mißverstandene Wacht, siesoll en-ihn-nicht-haben, wer? die Franzosen, wer hatte ihn schon? die Menschen am Strom, Schiffer, Fischer, Gärtner, Winzer, Händler, Fabrikherren, Liebende, der Dichter Heine, wer soll ihn haben? wer mag, wer da ist, hatte nun er ihn, Richard Kirsch, Soldat der US-LUFTWAFFE , achtzehn Jahre alt, der ihn von oben betrachtete, oder war er es gar nun wieder, der die Wacht am Rhein bezog, guten Glaubens wie sie und vielleicht wieder in der Falle eines Mißverstehens des geschichtlichen Augenblicks? Er dachte ›wenn ichetwas älter wäre, vierundzwanzig vielleicht statt achtzehn, dann hätte ich auch mit achtzehn Jahren hier fliegen, hier zerstören und hier sterben können, wir hätten Bomben gebracht, wir hätten Bomben geworfen, wir hätten einen Weihnachtsbaum angezündet, wir hätten einen Teppich ausgelegt, wir wären ihr Tod gewesen, wir wären vor ihren Scheinwerfern in den Himmel getaucht, wo wird das einmal sein? wo werde ich ausüben, was ich lerne? wo werde ich Bomben werfen? wen werde ich bombardieren? hier? diese? weiter vor? andere? weiter zurück? wieder andere?‹ Über Bayern trübte sich das Land ein. Sie flogen über den Wolken. Als sie landeten, roch die Erde feucht. Der Flughafen roch nach Gras, nach Benzin, Auspuffgasen, Metall und nach etwas Neuem, nach der Fremde, es war ein Backgeruch, ein Brotteiggeruch nach Gärung, Liefe und Alkohol, appetitanregend und animierend, es dunstete nach Biermaische aus den großen Brauereien der Stadt.
    Sie gingen durch die Straßen, Odysseus voran, ein großer König, ein kleiner Sieger, jung, lendenstark, unschuldig, tierhaft, und Josef hinter ihm, zusammengeschrumpft, gebückt, alt, müde und pfiffig doch, und mit seinen pfiffigen Äuglein durch die billige Krankenkassenbrille schaute er auf den schwarzen Rücken,

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