Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras
des Hotels Zum Lamm und atmeten die Nacht ein. Ihr Schatten sprang in die Straße. Es war der Schatten der Liebe, eine flüchtige, vor überhuschen de Erscheinung. Sie sahen das Leuchtschild des Ecarteclubs aufflammen und das Kleeblatt des Glücks sich entfalten. Sie hörten die Sirenenwagen der Polizei. Sie hörten einen Hilferuf. Eine schrille englische Stimme rief um Hilfe. Es war nur ein kurzer kleiner Schrei, und dann starb der Schrei. »Das war Edwins Stimme«, sagte Kay. Philipp erwiderte nichts. Er dachte ›es war Edwin‹. Er dachte ›welche Sensation für das Neue Blatt‹. Selbst das Abendecho würde einen Überfallenen Dichter von Weltruhm auf die erste Seite setzen. Philipp dachte ›ich bin ein schlechter Reporter‹. Er rührte sich nicht. Er dachte ›kann ich noch weinen? habe ich noch Tränen? würde ich weinen, wenn Edwin tot wäre?‹ Kay sagte: »Ich möchte gehen.« Sie dachte ›er ist arm, wie arm er ist, er geniert sich, weil er so arm ist, wie arm ist dieses Zimmer, er ist ein armer Deutscher‹. Sie hakte den Schmuck ab, das mondbleiche Geschmeide aus Perlen, Email und diamantenen Rosen, den alten Großmutterschmuck, den Emiliaihr geschenkt hatte. Sie legte Emilias Versuch, eine freie und absichtslose Tat zu tun, auf die Fensterbank. Philipp verstand die Geste. Er dachte ›sie hält mich für einen Hungrigem. Die kleine Kay sah das Kleeblatt, das aufflammende Neonlicht und dachte ›das ist sein Wald, sein Eichenhain, sein deutscher Wald, in dem er wandelt und dichtet‹.
Mitternacht schlägt es vom Turm. Es endet der Tag. Ein Kalenderblatt fällt. Man schreibt ein neues Datum. Die Redakteure gähnen. Die Druckformen der Morgenblätter werden geschlossen. Was am Tage geschehen, geredet, gelogen, erschlagen und vernichtetwar, lag in Blei gegossen wie ein flacher Kuchen auf den Blechen der Metteure. Der Kuchen war außen hart, und innen war er glitschig. Die Zeit hatte den Kuchen gebacken. Die Zeitungsleute hatten das Unheil umbrochen, Unglück, Not und Verbrechen; sie hatten Geschrei und Lügen in die Spalten gepreßt. Die Schlagzeilen standen, die Ratlosigkeit der Staatenlenker, die Bestürzung der Gelehrten, die Angst der Menschheit, die Glaubenslosigkeit der Theologen, die Berichte von den Taten der Verzweifelten waren vervielfältigungsbereit, sie wurden in das Bad der Druck er schwärze getaucht. Die Rotationsmaschinen liefen. Ihre Walzen preßten auf das Band des weißen Papiers die Parolen des neuen Tages, die Fanale der Torheit, die Fragen der Furcht und die kategorischen Imperative der Einschüchterung. Noch wenige Stunden, und müde, arme Frauen werden die Schlagzeilen, die Parolen, die Fanale, die Furcht und die schwache Hoffnung ins Haus des Lesers tragen; verfrorene, mißmutige Händler werden den Morgenspruch der Auguren an die Wände ihrer Kioske hängen. Die Nachrichten wärmen nicht. SPANNUNG, KONFLIKT, VERSCHÄRFUNG, BEDROHUNG. Am Himmel summen die Flieger. Noch schweigen die Sirenen. Noch rostet ihr Blechmund. Die Luftschutzbunker wurden gesprengt; die Luftschutzbunker werden wieder hergerichtet. Der Tod treibt Manöverspiele, BEDROHUNG, VERSCHÄRFUNG, KONFLIKT, SPANNUNG. Komm-du -nun-sanfter-Schlummer. Doch niemand entflieht seiner Welt. Der Traum ist schwer und unruhig. Deutschland lebt im Spannungsfeld, östliche Welt, westliche Welt, zerbrochene Welt, zwei Welthälften, einander Feind und fremd, Deutschland lebt an der Nahtstelle, an der Bruchstelle, die Zeit ist kostbar, sie ist eine Spanne nur, eine karge Spanne, vertan, eine Sekunde zum Atem holen, Atempause auf einem verdammten Schlachtfeld.
Tauben im Gras erschien 1951 als erster Roman jener »Trilogie des Scheiterns«, mit der Koeppen eine erste kritische Bestandsaufnahme der sich formierenden Bundesrepublik gab. Mit Vehemenz und kritischer Schärfe analysiert er die Rückstände und Verhaltensweisen, die zu Faschismus und Krieg geführt haben und die schließlich in den fünfziger Jahren die Restauration der überkommenen Verhältnisse protegierten. Dabei ist das Verfahren von Tauben im Gras ein kaleidoskopartiges: der ganze Roman schildert die Gestalten und Ereignisse eines einzigen Tages im München des Jahres 1949. Mit einer Fülle genauer atmosphärischer Details zeichnet Koeppen den Nachkriegsalltag dieser Stadt, die sein Protagonist, der verhinderte Schriftsteller Philipp, als ein Schlachtfeld erlebt, als ein undurchdringliches »Pandämonium«. Wolfgang Koeppen, geboren 1906 in Greifswald, starb 1996
Weitere Kostenlose Bücher