Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras
nicht, lache nicht, spiele nicht, tändele nicht, nütze die Zeit, denn wir sind dem Tod verfallen. Hillegonda hätte lieber noch geschlafen. Sie hätte lieber noch geträumt. Sie hätte auch gern mit ihren Puppen gespielt, aber Emmi sagte: »Wie darfst du spielen, wenn dich Gott ruft!« Hillegondas Eltern waren böse Menschen. Emmi sagte es. Man mußte für die Sünden der Eltern büßen. So begann der Tag. Sie gingen zur Kirche. Eine Straßenbahn bremste vor einem jungen Hund. Der Hund war struppig und ohne Halsband, ein herrenloser, verlaufener Hund. Die Kinderfrau drückte Hillegondas kleine Hand. Es war kein freundlicher, beistehender Druck; es war der feste unerbittlicheGriff des Wächters. Hillegonda blickte dem kleinen herrenlosen Hund nach. Sie wäre lieber hinter dem Hund hergelaufen, als mit der Kinderfrau in die Kirche gegangen. Hillegonda preßte die Knie zusammen, Furcht vor Emmi, Furcht vor der Kirche, Furcht vor Gott bedrückte ihr kleines Herz; sie machte sich schwer, sie ließ sich ziehen, um den Weg zu verzögern, aber die Hand des Wächters zerrte sie weiter. So früh war es noch. So kalt war es noch. So früh war Hillegonda schon auf dem Wege zu Gott. Die Kirchen haben Portale aus dicken Bohlen, schwerem Holz, eisernen Beschlägen und kupfernen Bolzen. Fürchtet sich auch Gott? Oder ist auch Gott gefangen? Die Kinderfrau faßte die kunstgeschmiedete Klinke und öffnete spaltbreit die Tür. Man konnte gerade zu Gott hineinschlüpfen. Es duftete bei Gott wie am Weihnachtstag nach Wunderkerzen. Bereitete sich hier das Wunder vor, das schreckliche, das angekündigte Wunder, die Vergebung der Sünden, die Lossprechung der Eltern? ›Komödiantenkind‹ dachte die Kinderfrau. Ihre schmalen, blutlosen Lippen, Asketenlippen in einem Bauerngesicht, waren wie ein scharfer, für die Ewigkeit gezogener Strich. ›Emmi ich fürchte mich‹ dachte das Kind. ›Emmi die Kirche ist so groß, Emmi die Mauern stürzen ein, Emmi ich mag dich nicht mehr, Emmi liebe Emmi, Emmi ich hasse dich!‹ Die Kinderfrau sprengte Weihwasser über das zitternde Kind. Ein Mann drängte durch den Spalt der Tür. Fünfzig Jahre Mühe, Arbeit und Sorge lagen hinter ihm, und nun hatte er das Gesicht einer verfolgten Ratte. Zwei Kriege hatte er erlebt. Zwei gelbe Zähne verwesten hinter seinen immer flüsternden Lippen; er war in ein endloses Gespräch verstrickt; er sprach zu sich: wer sonst hätte ihm zugehört? Hillegonda folgte auf ihren Zehen der Kinderfrau. Düster waren die Pfeiler, das Mauerwerk war von Splittern verwundet. Kälte, wie aus einem Grab, wehte das Kind an. ›Emmi verlaß mich nicht, Emmi Hillegonda Angst, gute Emmi, böse Emmi, liebe Emmi‹ betete das Kind. ›Das Kind zu Gott führen, Gott straft bis ins dritte und vierteGlied‹ dachte die Kinderfrau. Die Gläubigen knieten. Sie sahen in dem hohen Raum wie verhärmte Mäuse aus. Der Priester las den Meßkanon. Die Wandlung der Elemente. Das Glöcklein läutete. Herr-vergib-uns. Der Priester fror. Wandlung der Elemente! Macht, der Kirche und ihren Dienern verliehen. Vergeblicher Traum der Alchimisten. Schwärmer und Schwindler. Gelehrte. Erfinder. Laboratorien in England, in Amerika, auch in Rußland. Zertrümmerung. Einstein. Blick in Gottes Küche. Die Weisen von Göttingen. Das Atom fotografiert: zehntausendmillionenfache Vergrößerung. Der Priester litt unter seiner Nüchternheit. Das Flüstern der betenden Mäuse rieselte wie Sand über ihn. Sand des Grabes, nicht Sand des Heiligen Grabes, Sand der Wüste, die Messe in der Wüste, die Predigt in der Wüste. Fleißige-Maria-bitt-für-uns. Die Mäuse bekreuzten sich.
Philipp verließ das Hotel, in dem er die Nacht verbracht, aber kaum geschlafen hatte, das Hotel zum Lamm, in einer Gasse der Altstadt. Er hatte wach auf der harten Matratze gelegen, dem Bett der Handlungsreisenden, der blumenlosen Wiese der Paarung. Philipp hatte sich der Verzweiflung hingegeben, einer Sünde. Das Schicksal hatte ihn in die Enge getrieben. Die Flügel der Erinnyen schlugen mit dem Wind und dem Regen gegen das Fenster. Das Hotel war ein Neubau; die Einrichtung war fabrikfrisch, gelacktes Holz, sauber, hygienisch, schäbig und sparsam. Ein Vorhang, zu kurz, zu schmal und zu dünn, um vor dem Lärm und dem Licht der Straße zu schützen, war mit dem Muster einer Bauhaustapete bedruckt. In regelmäßigen Abständen flammte der Schein eines Leuchtschildes, das Gäste für den gegenüberliegenden Ecarteclub anlocken sollte, ins
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