Tausend strahlende Sonnen
Balkhi«, sagte der Wachmann.
Eine junge Frau erklärte, dass sie schon dort gewesen sei. Es gebe dort kein sauberes Wasser, sagte sie, keinen Sauerstoff, keine Elektrizität, keine Medikamente. »Da gibt es nichts.«
»Nur da dürft ihr hin«, sagte der Wachmann.
Rufe der Empörung wurden laut; vereinzelt waren auch Beleidigungen zu hören. Jemand warf einen Stein.
Der Talib hob seine Kalaschnikow und feuerte in die Luft. Ein anderer, der hinter ihm stand, schwang eine Peitsche.
Die Menge löste sich schnell auf.
Der Wartesaal der Rabia-Balkhi-Klinik war übervoll von verhüllten Frauen und Kindern. Es stank nach Schweiß und Schmutz, nach Füßen, Desinfektionsmitteln, Urin und Zigarettenrauch. Unter der Decke drehte sich ein Ventilator. Kinder tobten umher und sprangen über die ausgestreckten Beine schlafender Väter.
Mariam half Laila auf einen freien Stuhl. Von der Wand hinter ihr war großflächig Putz abgebröckelt; sie sah aus wie eine Karte fremder Kontinente. Laila hielt sich den Bauch und schaukelte vor und zurück.
»Ich werde dafür sorgen, dass du gleich drankommst, Laila jo .«
»Beeil dich«, sagte Raschid.
Vor dem Anmeldungsschalter drängte sich eine Traube von Frauen. Es wurde gerempelt und gestoßen. Einige hielten Säuglinge auf dem Arm. Andere befreiten sich aus der Menge und eilten auf die Doppeltür zu, die zu den Behandlungszimmern führte. Ein bewaffneter Talib versperrte ihnen den Weg und schickte sie zurück.
Mariam zwängte sich durch das Gewühl und schob die Hüften und Schultern der anderen mit Nachdruck beiseite. Ein Ellbogen traf ihre Rippen; sie wehrte sich auf gleiche Art. Sie parierte eine Hand, die auf ihr Gesicht zielte, zerrte an Armen, Kleidern und Haaren und ließ sich durch nichts und niemanden aufhalten, am allerwenigsten durch Worte.
Mariam erkannte nun, was eine Mutter aufopfern musste. Nicht zuletzt ihren Anstand. Voller Reue dachte sie an Nana, an das, was ihr aufgebürdet worden war. Nana hätte sie abgeben oder aussetzen und davonlaufen können. Aber sie hatte es nicht getan und stattdessen die Schande ertragen, einen harami zur Tochter zu haben. Sie hatte ihr Leben der undankbaren Aufgabe gewidmet, Mariam aufzuziehen, und sie sogar auf ihre Weise geliebt. Und am Ende war Mariam zu Jalil übergelaufen. Während sie sich nun mit wilder Entschlossenheit durch die Menge kämpfte, bedauerte sie es zutiefst, Nana keine bessere Tochter gewesen zu sein. Sie wünschte, sie hätte schon damals verstanden, was Mutterschaft bedeutete.
Endlich stand sie einer Schwester gegenüber, die von Kopf bis Fuß in eine schmutzige graue Burka gehüllt war. Die Schwester sprach mit einer jungen Frau, durch deren Verschleierung am Kopf Blut sickerte.
»Bei meiner Tochter ist die Fruchtblase geplatzt, aber das Kind will nicht kommen«, rief Mariam.
» Ich bin zuerst dran!«, blaffte die blutende junge Frau. »Warte gefälligst, bis du an der Reihe bist.«
Die Menge hinter ihnen wogte hin und her wie das hohe Gras vor der kolba , wenn der Wind über die Lichtung fuhr. Eine Frau schrie, dass ihre Tochter vom Baum gefallen sei und sich den Ellbogen gebrochen habe. Eine andere klagte heulend über Blut im Stuhl.
»Hat sie Fieber?«, fragte die Schwester, und es dauerte einen Moment, ehe Mariam bemerkte, dass sie mit ihr sprach.
»Nein«, antwortete Mariam.
»Blutet sie?«
»Nein.«
»Wo ist sie?«
Mariam deutete über die Köpfe der Frauen hinweg auf den Wartesaal.
»Wir kümmern uns drum«, sagte die Schwester.
»Wann?«, rief Mariam. Jemand packte sie bei den Schultern und zerrte sie zurück.
»Ich weiß nicht«, antwortete die Schwester. Sie sagte, dass nur zwei Ärzte Dienst hätten und beide zurzeit operierten.
»Sie hat Schmerzen«, drängte Mariam.
»Ich auch«, blaffte die Frau, die durch ihre Burka blutete. »Und du hast zu warten!«
Mariam wurde zurückgezerrt. Schultern und Köpfe versperrten ihr den Blick auf die Schwester. Ein Säugling, der unmittelbar neben ihr im Arm seiner Mutter hing, stieß Milch auf.
»Gehen Sie mit ihr im Gang auf und ab«, rief die Schwester. »Und gedulden Sie sich.«
Draußen war es schon dunkel geworden, als endlich eine Schwester kam und sie in den Kreißsaal führte. Darin standen acht Betten, bis auf eines alle belegt von schreienden und sich windenden Frauen, um die sich vollständig verschleierte Schwestern kümmerten. Zwei Frauen kamen gerade nieder. Es gab keine Vorhänge zwischen den Betten. Für Laila war das Bett
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