Tausend strahlende Sonnen
Herbst des vergangenen Jahres war Tariks herzkranker Onkel aus Ghazni gestorben. Wenige Wochen später hatte auch Tariks Vater einen Herzinfarkt gehabt; er war danach lange Zeit sehr krank gewesen und litt unter Depressionen. Laila war froh, Tarik bei guter Laune zu sehen, denn auch er hatte nach dem Anfall seines Vaters wochenlang Trübsal geblasen.
Zu dritt stahlen sie sich davon und ließen Mami und Babi in der Menge zurück. Bei einem Straßenhändler kaufte Tarik für jeden einen Teller Bohnen mit Koriander-Chutney. Sie aßen unter der Markise einer geschlossenen Teppichhandlung, und danach verabschiedete sich Hasina, um nach ihren Eltern zu suchen.
Auf der Busfahrt nach Hause saßen Tarik und Laila hinter ihren Eltern. Mami starrte aus dem Fenster, das Foto ihrer Söhne an die Brust gepresst. Babi ließ sich, ohne wirklich zuzuhören, von einem Mann darüber belehren, dass die Sowjets zwar abzögen, Nadschibullah aber weiterhin mit Waffen beliefern würden.
»Er ist deren Pappkamerad und wird für sie den Krieg fortsetzen. Darauf können Sie wetten.«
Von anderer Stelle kam Zustimmung.
Mami murmelte monotone Gebete vor sich hin, ohne zwischendurch Luft zu holen, so dass ihr zum Ende hin die Stimme wegblieb.
Am Nachmittag gingen Laila und Tarik in den Cinema Park, wo sie sich mit einem sowjetischen Film begnügen mussten, dessen Synchronisation auf Farsi unabsichtlich komische Blüten trieb. Er spielte auf einem Handelsschiff, dessen erster Offizier sich in die Tochter des Kapitäns verliebte. Ihr Name war Alyona. Das Schiff geriet in einen schweren Gewittersturm. Einer der in Panik geratenen Matrosen schrie etwas, das eine absurd ruhige Stimme übersetzte mit: »Mein lieber Herr, hätten Sie die Freundlichkeit, mir die Leine zu reichen?«
Tarik prustete laut los, und bald wurden beide von unbändigen Lachkrämpfen geschüttelt. Kaum hatten sie sich ein wenig beruhigt, fing einer von ihnen erneut zu glucksen an, und es platzte wieder aus ihnen heraus. Ein Mann, der zwei Reihen vor ihnen saß, drehte sich um und zischte ihnen zu, sie sollten gefälligst ruhig sein.
Gegen Ende des Films wurde das Paar getraut. Der Kapitän hatte sich erweichen lassen und Alyona dem ersten Offizier zur Frau gegeben. Die frisch Vermählten tauschten lächelnde Blicke aus. Alle tranken Wodka.
»Ich werde nie heiraten«, flüsterte Tarik.
»Ich auch nicht«, erwiderte Laila nach kurzem Zögern und hoffte, dass ihre Stimme die Enttäuschung über seine Worte nicht verriet. Mit klopfendem Herzen und energischem Nachdruck fügte sie hinzu: »Niemals.«
»Hochzeiten sind blöd.«
»Heckmeck.«
»Und wie viel Geld dabei draufgeht.«
»Wofür?«
»Für Klamotten, die man dann nie wieder anzieht.«
»Ha!«
»Falls ich doch mal heiraten sollte«, sagte Tarik, »wird man auf der Traubühne Platz für drei schaffen müssen. Für mich, die Braut und für den Typen, der mir die Pistole an den Kopf drückt.«
Der Mann vor ihnen warf ihnen einen strengen Blick zu.
Auf der Leinwand gaben sich Alyona und ihr Ehemann einen Kuss auf die Lippen.
Beim Anblick der beiden wurde Laila plötzlich ganz anders. Sie spürte ihr Herz pumpen, das Blut in den Ohren rauschen und bemerkte, dass Tarik neben ihr still wurde und die Luft anhielt. Der Kuss zog sich in die Länge. Laila wagte es nicht, sich zu rühren oder einen Mucks von sich zu geben, und ahnte, dass Tarik sie aus den Augenwinkeln beobachtete, um festzustellen, ob sie ihn beobachtete. Sie fragte sich, ob er ihr Atmen hörte, das womöglich nicht ganz regelmäßig war und ihre Gedanken verriet.
Und wie wäre es wohl, wenn er sie küsste? Wie würde sich der Flaum auf seiner Oberlippe anfühlen?
Dann rutschte Tarik, offenbar unruhig geworden, auf seinem Platz hin und her und sagte mit angestrengter Stimme: »Wusstest du, dass in Sibirien der Schnodder, den man aus der Nase schnäuzt, zu einem grünen Eiszapfen gefriert, bevor er am Boden auftrifft?«
Beide lachten, aber nur kurz und nervös diesmal. Als der Film zu Ende war und sie nach draußen gingen, stellte Laila zu ihrer Erleichterung fest, dass die Dämmerung eingesetzt hatte und sie Tariks Blicken nicht bei hellem Tageslicht ausgeliefert war.
23
April 1992
Drei Jahre vergingen.
Tariks Vater hatte in dieser Zeit mehrere Schlaganfälle erlitten; die linke Hand war gelähmt, und das Sprechen fiel ihm schwer. Wenn er sich aufregte, was häufig der Fall war, konnte man ihn kaum verstehen.
Tarik war wieder einmal seiner
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