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Tausend strahlende Sonnen

Tausend strahlende Sonnen

Titel: Tausend strahlende Sonnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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das auf der ganzen Welt seinesgleichen suchte.
    Die beiden Buddhas waren riesig und wirkten noch viel kolossaler als auf den Fotos, die sie von ihnen gesehen hatte. Eingemeißelt in den von der Sonne gebleichten Fels, blickten sie auf die kleine Gruppe herab wie schon vor fast zweitausend Jahren, als, wie es sich Laila vorzustellen versuchte, durch dieses Tal der Seidenstraße Handelskarawanen gezogen waren. Zahllose Höhlen markierten die überhängenden Steilwände zu beiden Seiten.
    »Daneben kommt man sich ja winzig klein vor«, sagte Tarik.
    »Wie wär’s? Steigen wir rauf?«, schlug Babi vor.
    »Auf die Statuen?«, fragte Laila. »Ist das denn möglich?«
    Babi lächelte und streckte seine Hand aus. »Auf geht’s.«
    Tarik musste sich von Laila und Babi helfen lassen, als sie im Halbdunkel durch einen engen gewundenen Treppenschacht nach oben stiegen. Immer wieder kamen sie an Höhlen und Nischen vorbei, die wie Bienenwaben den Fels durchsetzten.
    »Passt gut auf«, sagte Babi. Seine Stimme hallte von den Wänden wider. »Die Stufen sind tückisch.«
    An manchen Stellen öffnete sich der Schacht und gab einen Blick auf die Buddhas frei.
    »Nicht nach unten blicken, Kinder. Die Augen immer geradeaus.«
    Babi erzählte, dass Bamiyan einst ein blühendes buddhistisches Zentrum gewesen sei, bevor es im 9. Jahrhundert unter die Herrschaft islamischer Araber geriet. Buddhistische Mönche hatten Höhlen in den Sandstein gegraben, die ihnen selbst als Wohnung oder durchreisenden Pilgern als Zuflucht dienten. Früher, erklärte Babi, seien die Wände und Gewölbe mit prächtigen Fresken ausgemalt gewesen.
    »In der Blütezeit haben hier an die fünftausend Mönche gelebt«, sagte er.
    Tarik war völlig erschöpft, als sie oben anlangten. Auch Babi keuchte heftig. Seine Augen aber strahlten vor Begeisterung.
    »Wir stehen hier auf dem Kopf des Buddhas«, sagte er und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. »Da drüben ist ein Balkon, von dem sich ein herrlicher Ausblick bietet.«
    Vorsichtig rückten sie weiter vor, bis auf einen Felssims, wo sie Babi in ihre Mitte nahmen und aufs Tal hinabblickten.
    »Seht euch das an!«, staunte Laila.
    Babi lächelte.
    Ein Teppich aus üppig grünen Feldern breitete sich unter ihnen aus. Babi sagte, dass dort Winterweizen, Luzerne und Kartoffeln angebaut würden. Pappeln säumten die Felder, die von Bewässerungsgräben und Bachläufen durchzogen waren. An den Ufern hockten Wäsche waschende Frauen. Babi machte auf die terrassierten Reis- und Gerstenfelder an den Berghängen aufmerksam. Es war Herbst. Auf den Flachdächern der Lehmziegelhäuser wurde die Ernte zum Trocknen ausgelegt. Pappeln säumten auch die Straße, die durch die Ortschaft führte. Es gab dort kleine Geschäfte, Teehäuser und Barbiere, die ihre Kunden unter freiem Himmel bedienten. Die Bergausläufer jenseits der Ortschaft und des Flusses waren kahl und staubbraun. Dahinter erhoben sich, wie überall in Afghanistan, die schneebedeckten Gipfel des Hindukusch.
    Über das gesamte Panorama spannte sich ein makellos blauer Himmel.
    »Wie still es hier ist«, flüsterte Laila. Auf der Talsohle waren winzige Schafe und Pferde auszumachen, aber auch von ihnen drang kein Laut herauf.
    »Ja, das ist mir auch immer aufgefallen, sooft ich hier war«, bestätigte Babi. »Die Stille, die friedliche Stimmung. Diesen Eindruck wollte ich euch vermitteln. Aber ich wollte euch auch einen Teil der reichen Geschichte unseres Landes zeigen, Kinder. Wie ihr seht, kann ich euch noch einiges beibringen. Etwas, das man nicht aus Büchern lernt, das man einfach mit eigenen Augen sehen und mit allen Sinnen erfahren muss.«
    »Seht mal«, sagte Tarik.
    Ein Falke kreiste in weiten Bögen über die Ortschaft.
    »Bist du auch mal mit Mami hier gewesen?«, wollte Laila wissen.
    »Oh ja, oft. Schon vor, aber auch nach der Geburt deiner Brüder. Deine Mutter war damals sehr unternehmungslustig und … voller Leben. Der lebendigste, fröhlichste Mensch, der mir je begegnet ist.« Er lächelte wehmütig. »Sie hatte ein unwiderstehliches Lachen. Ich glaube, deswegen habe ich sie geheiratet, wegen ihres Lachens. Wenn sie lachte, musste man zwangsläufig mitlachen. Dagegen war kein Kraut gewachsen.«
    Laila spürte ein warmes Gefühl der Zuneigung in sich aufwallen. In diesem Moment prägte sich ihr ein Bild von Babi ein, an das sie sich auch nach Jahren noch erinnern sollte: wie er dastand und von Mami schwärmte, die Ellbogen

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