Tausend strahlende Sonnen
solle, was absolut notwendig sei. Alles andere müsse verkauft werden.
»Von dem Erlös könnten wir in Peschawar leben, bis ich Arbeit gefunden habe.«
Während der nächsten zwei Tage trugen sie zusammen, was entbehrt werden konnte und für den Verkauf bestimmt war.
In ihrem Zimmer sortierte Laila alte Kleidungsstücke, Schuhe, Bücher und Spielzeug aus. Unter ihrem Bett fand sie die kleine gelbe Glaskuh, die sie in der fünften Klasse von Hasina bekommen hatte. Außerdem waren da ein kleiner Fußball als Schlüsselanhänger, ein Geschenk von Giti; ein kleines hölzernes Zebra auf Rädern; ein aus Ton gebrannter Astronaut, den sie und Tarik im Straßengraben gefunden hatten. Sie war damals sechs und er acht Jahre alt gewesen. Es hatte Streit darüber gegeben, wer von ihnen der eigentliche Finder war.
Auch Mami machte sich an die Arbeit. Doch ihre Bewegungen waren träge und zögerlich, ihre Augen glanzlos und der Blick nach innen gekehrt. Sie packte ihr gutes Geschirr zusammen, ihre Servietten, den gesamten Schmuck bis auf den Ehering und einen Großteil ihrer alten Kleider.
»Das willst du doch nicht etwa verkaufen, oder?«, sagte Laila und hob Mamis Hochzeitskleid in die Höhe. Es fiel ihr in Kaskaden auf den Schoß. Sie berührte die Spitze und Schleife am Halsausschnitt, die mit der Hand aufgestickten Perlen an den Ärmeln.
Achselzuckend nahm Mami ihr das Kleid ab und schleuderte es brüsk zu den anderen ausrangierten Sachen. Als würde sie sich mit einem Ruck von einem Verband befreien, dachte Laila.
Babi hatte die schmerzlichste Aufgabe zu erledigen.
Laila fand ihn in seinem Arbeitszimmer. Mit wehmütigem Blick betrachtete er seine Bücher in den Regalen. Er trug ein T-Shirt aus zweiter Hand; darauf abgebildet war die rote Hängebrücke von San Francisco, eingetaucht in dichten Nebel, der aus weiß schäumendem Wasser in der Tiefe aufstieg.
»Du kennst die Frage«, sagte er. »Welche Bücher soll man auf eine einsame Insel mitnehmen, wenn man sich nur fünf auswählen darf? Dass auch ich einmal vor diesem Problem stehen würde, hätte ich mir nicht träumen lassen.«
»Du wirst mit einer neuen Sammlung anfangen, Babi.«
»Mm.« Er lächelte traurig. »Ich kann kaum glauben, Kabul hinter mir zurückzulassen. Ich bin hier zur Schule gegangen, war selbst Lehrer in dieser Stadt und bin hier Vater geworden. Es ist eine seltsame Vorstellung, demnächst unter dem Himmel einer anderen Stadt zu schlafen.«
»Auch für mich.«
»Mir gehen schon den ganzen Tag zwei Zeilen aus einem Gedicht über Kabul durch den Kopf. Es stammt aus dem 17. Jahrhundert und wurde von Saib-e-Tabrizi geschrieben. Ich konnte einmal das ganze Gedicht auswendig aufsagen, kann mich jetzt aber nur noch an diese beiden Zeilen erinnern:
Nicht zu zählen sind die Monde, die auf ihren Dächern schimmern,
noch die tausend strahlenden Sonnen, die verborgen hinter Mauern stecken.«
Laila blickte auf und sah ihn weinen. Sie legte ihren Arm um seine Taille. »Oh, Babi. Irgendwann kehren wir zurück. Wenn dieser Krieg vorbei ist. Dann sind wir wieder hier, inschallah . Du wirst sehen.«
Am dritten Tag schaffte Laila alles, was abgegeben werden sollte, in den Hof. Mit einem Taxi wollten sie die Sachen in ein Pfandhaus bringen.
Laila schleppte Karton um Karton, gefüllt mit Kleidern, Geschirr und Babis Büchern, nach draußen. Gegen Mittag, als sich der Hausrat vor der Eingangstür schulterhoch stapelte, hätte sie eigentlich erschöpft sein müssen; tatsächlich aber wurde sie von Minute zu Minute lebendiger. Beflügelt von der Aussicht, Tarik bald wiederzusehen, wuchs sie über sich hinaus.
»Wir brauchen ein großes Taxi.«
Laila schaute nach oben und sah ihre Mutter im Fenster ihres Schlafzimmers lehnen. Das strahlende Sonnenlicht verfing sich in ihrem ergrauten Haar und ließ ihre verhärmten Gesichtszüge noch stärker in Erscheinung treten. Sie trug das kobaltblaue Kleid, das sie auch zur Freudenfeier vor vier Monaten getragen hatte, ein Kleid, das jünger machte. Laila aber sah in diesem Moment eine alte Frau vor sich. Eine alte Frau mit dünnen Armen, eingefallenen Schläfen und dunklen Ringen unter müden Augen, ein scheinbar völlig anderes Wesen, verglichen mit der drallen, pausbackigen Frau, die einem aus den alten körnigen Hochzeitsfotos entgegenlachte.
»Oder besser gleich zwei große Taxis«, sagte Laila.
Laila konnte auch ihren Vater sehen, der im Wohnzimmer Bücherkartons aufeinanderstellte.
»Komm rein, wenn du
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