Tausend strahlende Sonnen
ein bekanntes Gesicht. Hasinas Familie war im Mai nach Teheran geflohen. Wajma hatte sich mit ihrem Clan im gleichen Monat nach Islamabad abgesetzt. Gitis Eltern und Geschwister waren im Juni, kurz nach Gitis Tod, abgereist. Laila wusste nicht einmal, wohin. Es hieß, dass sie nach Mashad in den Iran hatten gehen wollen. Nach dem Auszug der Nachbarn blieben ihre Häuser für ein paar Tage leer; dann zogen entweder Milizionäre oder fremde Zivilisten ein.
Alle flohen. Nun auch Tarik.
»Und meine Mutter ist nicht mehr die Jüngste«, sagte er. »Die beiden haben nur noch Angst. Laila, sieh mich an.«
»Du hättest es mir sagen sollen.«
»Bitte, sieh mich an.«
Laila wimmerte, schluchzte und fing dann zu weinen an. Als er mit dem Daumen die Tränen abzuwischen versuchte, stieß sie seine Hand von sich, empört und wütend darüber, dass er sie im Stich ließ, Tarik, der wie ein Teil von ihr war und in all ihren Gedanken auftauchte. Wie konnte er sie verlassen? Sie schlug ihn. Sie schlug ihn und zerrte an seinen Haaren, bis er sie bei den Handgelenken packte und festhielt. Er versuchte, auf sie einzureden, klang ruhig und vernünftig dabei, doch sie hörte ihm nicht zu. Er kam ihr näher, so nahe, dass sie wieder seinen Atem auf ihren Lippen spürte.
Und als er sie dann küsste, ließ sie es sich gefallen.
Alles genau in Erinnerung zu behalten, was dann geschah, wurde ihr wichtigstes Anliegen in den nächsten Tagen und Wochen. Wie ein Kunstliebhaber, der einem brennenden Museum entfliehen muss, versuchte sie, alles, was ihr wertvoll erschien, festzuhalten und vor dem Vergessen zu bewahren – möglichst jeden Blick, jede Empfindung, jedes geflüsterte Wort. Doch die Zeit ist ein verheerendes Feuer, und am Ende konnte sie nur weniges retten: den jähen, heftigen Schmerz; das schräg auf den Teppich fallende Sonnenlicht; die hastig abgeschnallte Prothese, die neben ihnen lag; seine Ellbogen in ihren Händen; das Muttermal unter seinem Schlüsselbein – die auf dem Kopf stehende Mandoline – rot erglüht; sein Gesicht dicht vor ihren Augen; seine herabhängenden schwarzen Locken, ihre Wangen kitzelnd; die Angst, ertappt zu werden; das ungläubige Staunen über den eigenen Wagemut; die seltsame, unbeschreibliche Wonne, vermischt mit Schmerz; den vielfältigen Ausdruck in Tariks Blicken: Scheu, Sorge, Zärtlichkeit, Verlegenheit, vor allem aber Hunger.
Danach herrschte helle Aufregung. Mit fliegenden Fingern wurden Hemden zugeknöpft, Haare gekämmt und Gürtel geschnallt. Schließlich saßen sie wieder Seite an Seite auf der Couch, die Gesichter gerötet und beide sprachlos über das, was geschehen war. Was sie getan hatten.
Laila entdeckte drei Tropfen Blut auf dem Teppich, ihr Blut, und stellte sich die Eltern vor, wenn sie später auf dieser Couch säßen, ohne etwas von der Sünde zu ahnen, die sie, ihre Tochter, begangen hatte. Scham und Schuldgefühle überkamen sie jetzt, und oben tickte die Uhr, überlaut für Lailas Ohren. Wie das unablässige Klopfen eines Richterhammers zu ihrer Verurteilung.
Tarik sagte: »Komm mit mir.«
Laila glaubte fast für einen Moment, dass es ihr möglich wäre, zusammen mit Tarik und seinen Eltern auszuwandern, ihre Taschen zu packen, einen Bus zu besteigen und alle Gewalt hinter sich zu lassen, um ein neues Leben an Tariks Seite zu beginnen, auf Gedeih oder Verderb. Ohne ihn bliebe ihr nur trostlose Einsamkeit.
Ja, es wäre ihr möglich. Sie könnten zusammen gehen.
Es würde weitere solcher Nachmittage geben.
»Ich will dich heiraten, Laila.«
Erst jetzt hob sie den Blick, um ihm in die Augen zu schauen. Sie versuchte, seine Gedanken zu erforschen. Diesmal zeigte sich nichts von jenem clever einstudierten vieldeutigen Mienenspiel, dass er sonst so gut beherrschte. Er wirkte vielmehr ungewohnt ernst und entschlossen.
»Tarik …«
»Ich will dich zur Frau, Laila. Wir könnten heute noch heiraten.«
Er wollte noch mehr sagen, ihr vorschlagen, eine Moschee aufzusuchen, einen Mullah und zwei Trauzeugen ausfindig zu machen, eine nikka auf die Schnelle …
Doch Laila dachte an Mami, die in ihrem Groll und in ihrer Verzweiflung so unnachgiebig und kompromisslos war wie die Mudschaheddin. Sie dachte an Babi, der seiner Frau nichts entgegenzusetzen und längst aufgegeben hatte.
Manchmal … drängt sich mir das Gefühl auf, dass du, Laila, alles bist, was ich habe .
Dies waren die unüberwindlichen Umstände ihres Lebens.
»Ich werde bei Kaka Hakim um deine Hand
Weitere Kostenlose Bücher