Tausendundeine Nacht - Erwachsene Märchen aus 1001 Nacht
Kalender weiter, bestieg ich gegen Abend einen Berg und brachte die Nacht in einer Höhle zu. So lebte ich einen ganzen Monat hindurch, bis ich endlich in eine sehr schöne, wohlbefestigte, volkreiche Stadt kam, deren Straßen von Menschen wimmelten. Es war zur Zeit, als der kalte Winter zu Ende gegangen und der Frühling mit seinen Rosen wiedergekehrt; freundlich öffneten sich die Blüten, sanft murmelten die Bäche und lieblich sangen die Vögel; es paßten auf diese Stadt recht gut die Verse eines Dichters:
»Es ist eine Stadt, deren Bewohner den Schrecken gar nicht kennen, denn die Sicherheit ist ihr Gefährte, sie gleicht einem reichgeschmückten Paradiese, das seinen Bewohnern Wunderschätze öffnet.«
Ich freute mich, einen solchen Wohnsitz erreicht zu haben, doch ward ich über meinen erbärmlichen Zustand sehr betrübt, ich war so müde, daß ich kaum mehr gehen konnte, mein ganzer Körper, Gesicht und Hände waren von der Sonne verbrannt, und ich war vor vielem Kummer und Sorgen ganz entstellt. So wandelte ich traurig durch die Stadt, ohne zu wissen wohin. Endlich kam ich vor einem Schneiderladen vorüber; ich grüßte den Schneider, der mich bewillkommte, und Spuren früheren Wohlstandes an mir entdeckte. Er hieß mich sitzen, und da ihm meine Unterhaltung gefiel, erkundigte er sich nach meinen Verhältnissen, und als ich ihm alles, was mir widerfahren war, erzählte, machte es den schmerzlichsten Eindruck auf ihn. Dann sagte er mir: »Hüte dich, junger Mann, irgend jemandem zu sagen, wer du bist, denn der König dieser Länder ist ein großer Feind deines Vaters.« Dann brachte er mir etwas zu essen, und wir blieben bei Tische bis tief in die Nacht. Als es spät ward, schaffte er Bett und Decken herbei und wies mir neben sich einen Raum zum Schlafen an. Nachdem ich drei Tage bei ihm zugebracht, fragte er mich, ob ich denn kein Handwerk erlernt, mit dem ich mich ernähren könne. Ich antwortete ihm, ich sei ein Gelehrter, Theologe, auch zugleich Belletrist, Grammatiker, Dichter und Schönschreiber. »Alles dies wird hierzulande nicht gesucht«, versetzte er. Nun sage ich: »Ich verstehe wahrscheinlich nichts anderes, als was ich dir eben genannt.« »So fasse Mut«, erwiderte mir der Schneider, »nimm eine Axt und einen Strick, geh in den Wald und haue Holz ab, so findest du doch zu leben; hüte dich aber sehr, dich jemandem zu erkennen zu geben, Gott wird dir weiter helfen.« Als ich seinen Rat zu befolgen versprach, kaufte er mir selbst eine Axt und einen Strick und empfahl mich einigen anderen Holzbauern. Mit diesen ging ich und haute den ganzen Tag Holz, trug es dann auf meinem Kopfe abends in die Stadt, verkaufte es um einen halben Dinar und brachte das Geld dem Schneider. So lebte ich ein ganzes Jahr fort. Eines Tages, als ich von meinen Gefährten mich getrennt hatte, entdeckte ich einen Garten mit Bäumen bepflanzt und von Bächen durchströmt. Als ich in dem Garten umherging, erblickte ich den Stamm eines sehr dicken Baumes, und als ich mit meiner Axt die Erde weggrub, stieß ich auf einen Ring, der an einer hölzernen Tafel befestigt war. Ich hob diese Tafel (mit Hilfe des Ringes) auf und gewahrte nun eine Treppe, die ich hinabstieg. Jetzt kam ich an ein Schloß, so schön und massiv gebaut, wie ich noch nie in meinem Leben ein ähnliches gesehen hatte. Als ich in diesem Schlosse mich eine Weile umgesehen, bemerkte ich ein Mädchen, so herrlich wie die reinste Perle, oder wie die helleuchtende Sonne. Als es zu reden anfing, verscheuchten seine Worte jeden Kummer, sie waren so süß, daß sie selbst des verständigsten Mannes Herz bezaubern mußten. Es hatte einen schlanken Wuchs, einen schön gerundeten Busen, hübsche Wangen, eine zarte Gesichtsfarbe und ein vornehmes Aussehen, hell strahlte ihre Stirn unter den dunklen Locken hervor.
Das erste, was sie mich fragte, als sie mich erblickte, war, ob ich ein Mensch oder ein Geist wäre, und als ich ihr darauf erwiderte, daß ich ein Mensch sei, fragte sie mich, was ich denn wollte, da sie doch schon fünfundzwanzig Jahre hier verweile, ohne je von einem Menschen besucht worden zu sein. Ihre Worte waren so süß und so wohllautend, daß sie sogleich mein Herz gewannen, und ich antwortete ihr daher geradezu, wie ich gekommen sei, um mein Elend in Glück zu verwandeln, vielleicht auch, um ihren Kummer zu verscheuchen und sie glücklich zu machen. Ich erzählte ihr dann, was mir in meinem Leben zugestoßen, sie war sehr bestürzt darüber; dann
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