Tausendundeine Stunde
Ich finde, dass es weitaus wichtiger wäre, kritische Leserbriefe aufzugreifen und zu recherchieren, was aus ihren Kritiken geworden ist.“
Am nächsten Tag habe ich etwas in der Stadt zu erledigen. Auf dem Platz vor der Stadthalle haben sich Hunderte von Menschen versammelt. Buh-Rufe höre ich und immer wieder einen Sprechchor: „Wir sind das Volk“. Ich beobachte es mit Unruhe. Ich fasse den Entschluss, in die Lokalredaktion zu gehen. Vielleicht weiß Bennet Näheres. Ich will mit ihm über mein Vorhaben reden. Aber ich erfahre, dass er sich auf einer Krisensitzung befindet.
Etwas später erreiche ich ihn telefonisch: „Hast du einen Moment Zeit?“
Er zögert: „Im Moment ist es schlecht. Ist es dringend?“
Ich erkläre ihm kurz, um was es mir geht.
„Können wir uns heute Abend treffen? So gegen zwanzig Uhr vor der Redaktion? Wenn etwas dazwischen kommt, rufe ich dich an. Tschüs, Juliane.“
Meine Familie ist daran gewöhnt, dass ich zu den unterschiedlichsten Zeiten unterwegs bin. So brauche ich keine langen Erklärungen abzugeben. Bennet sieht abgespannt aus. „Komm, ich lade dich zum Essen ein, ich habe heute kaum etwas gegessen.“
Auf dem Weg zum Auto gehe ich in die Offensive: „Und, wieder Krisensitzung gehabt? Weißt du was, ich denke wir haben schon zu viel Zeit versessen. Über das viele Gerede, dass der Mensch das Maß aller Dinge ist und stets im Mittelpunkt steht, haben wir keine Zeit mehr gefunden, das Gesagte umzusetzen. Wir haben alles schöngeredet und schöngeschrieben. Auch ich habe eine Krisensitzung abgehalten, mit mir allein. Über all unsere vielen Foren, Tagungen, Sitzungen haben wir glatt die Randgebiete vergessen. Der Teufel aber steckt im Detail. Und nun schauen wir hilflos und erstaunt auf ein losgelassenes Volk, das seinen Zorn entlädt.“
Bennet bleibt abrupt stehen und hält mir den Mund zu: „Bitte Juliane. Ich habe mich auf dich gefreut. Ich habe gedacht, es wäre wieder einer deiner netten Vorwände, damit wir uns sehen können. Lass uns über alles reden, nur nicht über Krisen. Auch nicht über Ehekrisen. Steig ein.“
Das verschlägt mir die Sprache. Er schnallt sich an und startet sein Auto und noch ehe er den Gang einlegt, streichelt seine Hand über meinen Schenkel. Wir verzichten auf das Essen und fahren zu seinem Wochenendgrundstück. Dort feiern wir uns kleine private Vereinigung. Die Zeit dafür ist reif.
Zwei Monate später fällt die Mauer. Abbruch, Aufbruch, Umbruch. Aber schon wieder wird die Geschichte verfälscht. Glaubt man den Medien, so herrscht im ganzen Land eitel Sonnenschein. Ich habe mir geschworen, künftig besser aufzupassen und mir mein eigenes Bild zu machen. Es gibt nicht nur laut oder leise. Es gibt auch Zwischentöne, über die niemand berichtet. Frenetischer Jubel und leise Zweifel, Hoffnung und Resignation, Freude und Trauer, Euphorie und Depression, Zuversicht und Angst, Aufbau und Abriss. So sieht es aus in meinem Land. Auch für mich hat dieser Umschwung Konsequenzen. Unsere Tageszeitung behält zwar ihren Namen, aber ansonsten erhält sie eine völlig neue Form und auch die Inhalte ändern sich. Vor allem aber ist sie nun parteienunabhängig, man braucht keine Volkskorrespondenten mehr, die über wirtschaftlich errungene Siege berichten. Und meine Rubrik „Stadtreporter“ ist auch gestorben. Bennet ist nicht mehr der verantwortliche Redakteur der Lokalredaktion. Er arbeitet von nun an als Reporter. Zwar hat man mir angeboten, weiterhin als freier Mitarbeiter tätig zu sein, aber ich lehne ab. Es ist mir zuwider, mein Mäntelchen nach dem Wind zu hängen. Selbst wenn ich es gewollt hätte, ich befinde mich in einer Art Starre. Ich bin unfähig, klar zu denken, geschweige denn konstruktiv zu schreiben. Für Georg ändert sich nicht viel. Außer, dass er nun keine Uniform mehr trägt, sich neues Gesetzeswissen aneignen muss und das Pass- und Meldewesen nun Einwohnermeldeamt heißt.
Ich sitze auf der Terrasse und erfreue mich am strahlend blauen Sommerhimmel. In meinen Gedanken bin ich bei Bennet. Es ist eingetreten, was ich befürchtet habe. Er hat in mir eine unstillbare Glut entfacht und die Sehnsucht nach ihm droht mich zu zerreißen. Wir treffen uns gelegentlich, so wie es seine Zeit erlaubt. Nie sprechen wir darüber, was daraus werden soll. Es ist. Und es ist mit einer ungeahnten Heftigkeit und Leidenschaft, die ich verfluche. Denn ähnlich einer Droge macht sie mich abhängig. Umso grausamer
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