Tausendundeine Stunde
Georg.
Stefan lässt sich die Haare wieder wachsen und wechselt zu den Gruftis über. Heimlich versteht sich. Ich bekomme davon erst Wind, als die Phase schon wieder vorbei ist. So werden Heuchler gemacht.
Georg hat sich empor gearbeitet. Ich züchte nach wie vor Karnickel und arbeite noch immer als Stadtreporterin. Mit meinem Leben habe ich mich arrangiert. Um mich vor Georgs sarkastischen Bemerkungen zu schützen, habe ich mir eine Insel geschaffen. Dorthin fliehe ich in Gedanken und betrüge Georg mit Bennet. Ich bin mir sicher, dass ich es Realität werden lassen kann, wann immer ich es will. Mein Leben scheint soweit in Ordnung zu sein, doch dann gerät es ins Wanken. Es macht einfach kehrt in eine andere Richtung.
Mehrere Hundert DDR-Bürger besetzen die Botschaften der BRD in Prag, Warschau und Budapest und versuchen so ihre Ausreise in die Bundesrepublik zu erzwingen. Jeden Abend sitzen wir gebannt vor dem Fernseher. Trotz Verbot verfolgen nun auch wir das Westfernsehen. Menschen umarmen sich und jubeln. Immer mehr Menschen verlassen das Land über Ungarn. Auch Stefans erste Liebe Kim ist mit ihrer Familie am Balaton im Urlaub. Sehnsüchtig erwartet er ihre Rückkehr. Ich kann gut nachvollziehen, wie er empfindet.
„Post für dich, Stefan“, rufe ich und halte seinen ersten Liebesbrief in der Hand. Er reißt ihn an sich und verschwindet in sein Zimmer.
„Stefan komm Abendbrot essen“, rufe ich von unten. Und weil er nicht reagiert, gehe ich zu ihm hoch. „Hast du mich nicht gehört?“
Er liegt auf dem Bett, seine Augen sind gerötet. „Kim ist abgehauen“, sagt er und steckt seinen Kopf ins Kissen. Vor dem Bett liegen zerrissene Fotos, daneben der zerknüllte Brief. Ich streichele über seinen Kopf, weiß in diesem Moment nichts zu sagen. Ich atme tief durch, verlasse sein Zimmer und schließe zaghaft die Tür. Leises Weinen auf beiden Seiten der Tür.
Menschenströme verlassen das Land. Aber die Medien halten sich bedeckt. Schlimmer noch: So, als wäre alles im Reinen, lese ich in meiner Zeitschrift für Volkskorrespondenten, dass die achte Tagung des Zentralkomitees der SED eine gute Bilanz ziehen konnte. Und natürlich sind wieder anspruchsvolle und hohe Maßstäbe für den sozialistischen Wettbewerb gesetzt. Es gilt, den 40. Jahrestag der DDR würdig vorzubereiten. Außerdem steht der zwölfte Parteitag der SED bevor. Ich werde aufgerufen, über eigene Erfahrungen zur Steigerung der Arbeitsproduktivität zu berichten und unter der Rubrik „Kultursommer und Ferienzeit“ soll über Veranstaltungen im Sommer 89 berichtet werden, denn die stehen ganz im Zeichen der Arbeiterfestspiele.
Ich schüttle meinen Kopf und lege das Blättchen beiseite.
„Was geschieht hier, Georg?“ Ich sehe ihn fragend an.
„Hast du nähere Informationen? Die tun so, als sei alles in Butter. Lies dir den Käse hier mal durch.“ Ich reiche ihm die Zeitschrift.
Er überfliegt den Artikel. „Nein, ich habe auch keine Informationen.“
„Oh, was die Steigerung der Arbeitsproduktivität anbelangt, kann ich nichts Gutes berichten. Schließlich hast du Heinrich geschlachtet. Warum litt der Karnickelbock auch an Impotenz? Somit fehlt mir das wichtigste Produktionsmittel, um noch höhere Erträge in noch kürzerer Zeit zu erwirtschaften. Und was die Ferienerlebnisse von Jugendlichen angeht, so könnte ich Kims Brief einsenden. Geschrieben im Spätsommer 89 in der ungarischen Botschaft, wo die Menschen sich nerven und täglich auf Entscheidungen hoffen. Denn auch Kims Mutter hat dort Asyl gesucht.“
Georg schaut auf: „Davon hast du mir gar nichts erzählt.“
„Nein“, sage ich, „wir sitzen ja auch kaum beieinander. Wann hätte ich es dir erzählen sollen?“
„Kims Mutter ist eine gute Zahnärztin, die wird wieder Fuß fassen. Sie hat sich ja oft genug über die Engpässe in der Materialbeschaffung beklagt.“
„Ja“, sage ich, „wer hat sich nicht darüber beklagt? Der Zahnarzt und der Klempner. Der Klempner und die Büroangestellte, die Büroangestellte und Lieschen Müller. Rennen die jetzt alle davon? Du weißt doch etwas, erzähle schon.“ Georg plustert sich auf. „Nichts weiß ich, und wenn ich etwas wüsste, dürfte ich nicht darüber reden. Das hast du doch wohl noch nicht vergessen?“
Ich starre vor mich hin, nach einer Weile wende ich mich Georg zu: „Ich weiß nicht, ob ich unter diesen Bedingungen noch als Stadtreporterin schreiben kann. Ich werde mal mit Caspari reden.
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