Tausendundeine Stunde
schlecht, gedemütigt und seelisch geohrfeigt. Warum hatte ich nicht den Mut, mich zu widersetzen? Das mit dem Computer hätte genauso gut Georg passieren können. Warum ließ ich immer wieder zu, dass mich Georg erniedrigte? Es war, als hätte Joe in mir eine Schublade geöffnet. Jahrelang hielt ich sie verschlossen. Und nun hatte sie diese mit ihrer Bemerkung, dass es grotesk sei, geöffnet. Ich stellte mich vor den Spiegel und nahm Haltung an. „Sie gestatten Genosse Oberstleutnant?“, fragte ich mein Spiegelbild. „Darf ich Ihnen sagen, dass Sie ein überheblicher, selbstgefälliger Arsch sind? Ich denke nicht daran, Georg Leonhardt zu heiraten. Eigentlich will ich mich von ihm trennen.
Darf ich wegtreten?“
In Wirklichkeit war es anders. Wenzel hat mich zu sich befohlen. Ich betrete sein Zimmer, nehme Haltung an, frage: „Sie gestatten, Genosse Oberstleutnant?“
Wenzel winkt ab: „Ja, ja, schon gut. Setzen Sie sich.“ Er schlägt seine Beine übereinander und lächelt süffisant. „Wenn ich richtig informiert bin, leben Sie mit Genossen Leonhardt in Lebensgemeinschaft.“
„Das ist korrekt, Genosse Oberstleutnant. Ich lebe mit Georg Leonhardt seit drei Jahren in Lebensgemeinschaft “, antworte ich.
Er nickt mehrmals und kommt ohne weitere Umschweife zum Punkt: „Warum heiraten Sie nicht? Als unverheiratete Frau stellen Sie für mich ein Sicherheitsrisiko dar.“
Sein Blick durchbohrt mich, mir ist unwohl. Ich versuche, seinem Augenspiel auszuweichen. Dann nehme ich allen Mut zusammen und sage: „Entschuldigung, aber das verstehe ich nicht. Wieso bin ich ein Sicherheitsrisiko für Sie?“ Ich betone das Wort Sicherheitsrisiko. Wenzel zeigt sich über meinen Tonfall belustigt. Was treibt dieser Mann mit mir? Ich spüre, dass meine Hände feucht werden. Wenzel beugt sich jetzt zu mir vor. Gleich spießt er mich mit seiner spitzen Nase auf. „Überlegen Sie doch mal. Sie können jederzeit einen Mann kennen lernen, der aus dem westlichen Ausland kommt. Tja und dann müssten sich unsere Wege trennen. Es ist mir lieber, Sie heiraten. Ich erwarte morgen eine Antwort. Sie dürfen wegtreten.“
Georg ist zu diesem Zeitpunkt auf der Polizeischule. Und weil Wenzel am nächsten Tag eine Antwort haben will, rufe ich ihn an. „Ist etwas Schlimmes passiert?“, fragt er, denn es ist unüblich tagsüber anzurufen.
„Wir müssen heiraten“, sage ich. Ich höre ihn atmen. „Georg, warum sagst du nichts?“
„Bist du schwanger?“
„Schlimmer.“ Nun erzähle ich ihm in kurzen Zügen von dem Gespräch. „Hör mal“, sage ich am Ende des Telefonats, „ich kann auch meinen Dienst quittieren. Wir müssen also nicht heiraten.“
Aber ich hatte ihn geheiratet, obwohl mein Herz etwas ganz anderes sagte. Und nun, zwanzig Jahre später, saß ich auf meiner Bettkante und betrachtete mein Spiegelbild. An Stelle dieser hübschen Lachfältchen entdeckte ich um meine Mundwinkel Spuren von Verbitterung. Ich legte mein Gesicht in die Hände und weinte leise vor mich hin. Als ich keine Tränen mehr hatte, öffnete ich den Schrank und zog einen kleinen Karton hervor. Ich nahm ihn und ging damit ins Arbeitszimmer. Georg machte sich noch immer am Computer zu schaffen. Ich stellte den Karton wortlos auf den Schreibtisch. „Was ist das?“, fragte er barsch.
„Ein Stück Erinnerung an eine Zeit, als wir uns kurzfristig nah waren. Willst du ihn nicht öffnen?“
Georg schob ihn beiseite.
„Dann öffne ich ihn eben.“ Ich nahm den Deckel ab und holte ein paar Babyschuhe hervor. Ich legte sie behutsam auf meine Hand. „Erinnerst du dich an jenen nasskalten Novembertag, als wir dieses Haus zum ersten Mal besichtigt hatten? Du hattest gesagt, dass ich meine Augen schließen und mir vorstellen soll, wie schön dieses Haus werden würde. Es ist wohnlich geworden, aber um welchen Preis Georg? Nichts haben wir uns gegönnt. Jeder Pfennig floss in dieses Haus, jede freie Minute haben wir in dieses Haus investiert. Es hat uns aufgefressen. Das letzte bisschen Zuneigung zwischen uns ist mit Lilly gestorben.“
Georg schwieg. Seine Augen füllten sich mit Tränen.
Ich drehte mich um und verließ den Raum. Und weil ich fröstelte lief ich in die Küche und brühte mir einen Tee auf.
Allmählich kehrten die Lebensgeister wieder zurück. Ich griff nach einem der Babyschuhe und streichelte zärtlich darüber, so, als würde ich über Lillys Haare streicheln. Ich lehnte an der Terrassentür und starrte nach draußen. Ich
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