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Tausendundeine Stunde

Tausendundeine Stunde

Titel: Tausendundeine Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Suckert
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hindert. Wut zum Beispiel oder Bitternis. Ohnmacht. Die Angst, noch jemanden zu verlieren. Verzweiflung. All diese Dinge werde ich bei Lilly begraben.“
    „Du hast sie doch nicht mehr alle. Ich zweifle an deinem Verstand. Und dadurch wird nun alles besser? Bringt es vielleicht meine Tochter zurück?“ Er dreht sich weg, ich soll seine Tränen nicht sehen. Dann geht er wortlos.
    „Behalte diese Dinge bei dir, Kleine. Sie hindern mich daran, für deine Brüder da zu sein.“
    Georg steht vor dem Friedhof. Er drückt mir mein Fahrrad in die Hand, steigt auf das seine und fährt los. Dann dreht er sich um und ruft: „Ich muss mal alleine sein, warte nicht auf mich.“ Erst spät am Abend kommt er nach Hause.
    „Komm, setz dich neben mich“, fordere ich ihn auf.
    Widerwillig nimmt er neben mir auf dem Sofa Platz. „Magst du ein Bier?“, frage ich ihn. Er schüttelt den Kopf.
    „Warum hast du mir das heute Mittag auf dem Friedhof gesagt, Georg? Ich meine, dass ich sie nicht mehr alle hätte. Das ist mein Weg, um aus der Trauer herauszukommen. Seit einigen Wochen habe ich mir vor dem Einschlafen vorgestellt, dass ich all diese hemmenden Emotionen nehme, sie in ein Kästchen packe und für immer begrabe. Danach gehe ich in meinen imaginären Garten in der Toskana, streife in den frühen Morgenstunden durch das taunasse Gras und setzte mich an meinen Baum der Erkenntnis. Ich pflücke mir Früchte, einen ganzen Korb voll. Einen Korb voll inneren Frieden. Ständig halte ich dir diese Früchte vor die Nase, doch du nimmst sie nicht an. Warum?“
    „Du gehst in deinen Garten in die Toskana? Du hast doch gar keine Ahnung, wie es in der Toskana aussieht, und du wirst es auch nie wissen. Ich halte von diesem Psychokäse nichts. Und das weißt du ganz genau.“ Er ging in die Küche und holte sich nun doch ein Bier.
    „Für mich ist es der einzige Weg, um mich vor den Selbstvorwürfen zu befreien. Vielleicht hat sich unser Kind bemerkbar gemacht. Vielleicht ist es in genau der halben Stunde passiert, die ich zu spät nach ihr sah. Ich werde es nie erfahren. Und ich stelle mir auch nicht mehr die Frage, warum das gerade uns passiert ist. Es gibt keine Antwort darauf.“
    Georg trinkt in hastigen Schlucken die Flasche leer.
    Ich schaue ihn an: „Wir müssen einen gemeinsamen Weg finden. Sonst gehen wir vor die Hunde.“ Meine Stimme klingt energisch.
    Georg steht auf und verlässt den Raum: „Ich kenne keinen Weg und ich will auch nie mehr mit dir darüber reden.“
     
    Die Trauer hat viele Gesichter. Ich habe beschlossen, nicht mehr an diesen einen Tag zu denken, der mein Leben veränderte, sondern an die vielen Tage zuvor. Ich begreife, dass mich meine beiden anderen Kinder brauchen. Und intensiver als je zuvor beobachte ich, wie meine beiden Jungs heranwachsen. Ich weine mit ihnen über den ersten großen Schmerz, den die Liebe mit sich bringt und freue mich mit ihnen über errungene Siege in sportlichen Wettkämpfen. Nichts will ich mir mehr entgehen lassen, von dem, was Stefan und Paul berührt, freut, ängstigt. Und ich bin bestrebt, meinen Söhnen eine gute Freundin zu sein. Ich begreife, dass am Ende eines Lebens nicht die wenigen großen Taten zählen, sondern die vielen kleinen. Die, von denen keiner spricht, weil sie unscheinbar und selbstverständlich sind. Das nächtliche Wachen am Bett, wenn das Kind fiebert, das Backen eines Lieblingskuchens, die Heimlichkeiten zur Weihnachtszeit, das Wegtupfen von Tränen. Dasein und Zuhören. Vor allem zuhören, reden. Vor allem reden. Georg kann weder zuhören, noch reden. Und er macht sich auch nicht die Mühe, etwas zu hinterfragen. Er hat sich einen Panzer umgelegt, als wolle er sich damit vor den Seitenhieben des Lebens schützen. Seit Lillys Tod wird immer offensichtlicher, was eigentlich von Anfang an klar war: Georg und mich trennen Welten.
     
    Im Kreisamt hat man mich nicht so schnell zurückerwartet. Meine Planstelle ist besetzt. Eine andere gibt es nicht. Ich scheide in Ehren als Hauptwachtmeisterin a. D. aus den Reihen des Ministeriums des Inneren. Ich besinne mich darauf, das zu tun, was ich schon immer tun wollte: schreiben.
    Ich vereinbare einen Termin beim verantwortlichen Redakteur unserer Lokalzeitung. Drei Tage später sitze ich vor ihm und biete meine freie Mitarbeit an. Ich bin unsicher, denn dieser Mann hat mich von der ersten Sekunde unserer Begegnung auf seltsame Weise fasziniert. Noch nie zuvor habe ich so ein Gefühl gehabt, es bringt mich aus

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