Taylor Jackson 02 - Der Schneewittchenmörder
gefiel. Heute Morgen ertrug sie das übliche Gerede der Frühstückssendungen nicht, und seit dem dritten Mord machte sie auch einen großen Bogen um die ganzen Feiertagssender. Es fühlte sich einfach nicht richtig an, dieser freudigen Ausgelassenheit zuzuhören, während die toten Mädchen sich wie Kaminholz in der Leichenhalle stapelten. Sie brauchte nur einen gewissen Lärmpegel, Ablenkung. Sie sprach die Worte eines U2-Songs mit, während sie den Highway entlangfuhr. Die Straßen waren menschenleer, und sie fühlte sich so frei wie seit Monaten nicht.
Je näher sie jedoch der Rechtsmedizin kam, desto schwerer wurde ihr Herz. Als sie in die Gass Street einbog, schaltete sie das Radio aus.
Sams Büro lag in einem ganz normal aussehenden Firmengebäude am Ende der Straße, in der sich das Tennessee Bureau of Investigation, der örtliche FBI-Ableger, befand. Taylor war schon so oft hier gewesen, dass Sam ihr eine Karte gegeben hatte, die ihr auch nach Dienstschluss Zutritt gewährte. Oder vor Dienstbeginn, wenn nötig. An einem Tag wie heute gab es mit Sicherheit nur eine Notbesetzung, aber Taylor wusste, dass Sam da sein würde.
Und da war sie, bereits vorbereitet. Taylor konnte ihren Umriss durch das mit Draht verstärkte Sicherheitsglas der Tür sehen. In dem abgetrennten Vorraum, wo sie aus ihren Klamotten und Stiefeln schlüpfte und die OP-Kleidung und blaue Plastikclogs anzog, war die Luft kühl und klar. Sie packte ihre Straßenkleidung in einen Spind. Die Sachen mussten ja nicht den Rest des Tages nach Leichenhalle riechen. So angezogen betrat sie die Autopsieräume. Der chemische Geruch nach Tod grüßte sie wie ein alter Freund. Sie bemerkte ihn kaum noch.
Sam nickte, als Taylor eintrat. Sie war bereits dabei, ihre Befunde in das an ihrer Stirnlampe befestigte Mikrofon zu diktieren.
Der Leichnam von Janesicle Doe lag auf der cremefarbenen Plastikwanne, die den darunterliegenden Edelstahltisch umschloss. Sie war so weiß; kaltes, klammes Fleisch mit diesem großen, schwarzen Grinsen quer über der Kehle. Taylor spürte, wie ihr die Galle hochstieg, und schluckte schwer. Eine unangemessene Reaktion. Sie hoffte, dass Sam es nicht bemerkt hatte. Taylor war so abgeklärt wie alle anderen, aber irgendetwas an diesem Mädchen rührte sie besonders an.
Die einzelnen Morde hatten sie am Anfang nicht beunruhigt. Also nicht mehr als sonst. Nicht so wie dieser hier.
„Taylor, ist dir das aufgefallen? Sie hat das gleiche Zeug auf ihren Schläfen.“
Taylor trat näher und beugte sich über den Körper. Auf beiden Seiten des Gesichts glitzerte eine weißliche Substanz unter Sams Lampe. Es sah aus wie Streifen von Mondlicht.
„Es scheint das gleiche Material zu sein. Gibt es schon eine Rückmeldung dazu aus dem Labor?“
„Wir sollten eine Antwort haben, wenn wir hier fertig sind. Aus den vorherigen Proben haben wir keine Informationen erhalten, sie waren nicht umfangreich genug.“ Sam arbeitete sich systematisch durch Jane Does Haar.
„Du hast gesagt, es ist nichts von Mensch oder Tier.“
„Richtig. Keine DNA. Aber sie hat genug von diesem Zeug auf dem gesamten Körper, ganz sauber und frisch. Ich hab’s in den Spektrometer gegeben.“
„Das ist deine kleine Spezialmaschine, die die chemische Zusammensetzung ausspuckt, richtig?“
„Kleine Spezialmaschine? Wie wäre es mit Flüssigchromatografie mit Massenspektrometer, oder auch kurz LCMS? Ich würde gerne mehr Zeit darauf verwenden, ein paar anspruchsvollere Tests durchführen, um die Zusammensetzung zu erfahren, aber ich brauche eine Vergleichsprobe des echten Materials, um sicherzugehen. In der Zwischenzeit haben wir wenigstens genügend Informationen, um eine Vorstellung zu bekommen, mit was wir es hier zu tun haben.“
Sam fuhr mit ihrer Untersuchung fort, und Taylor stand gedankenverloren neben der Leiche.
Vor zwei Monaten war Taylor zur Fundstelle von Elizabeth Shaw gerufen worden, einer Studentin an der Belmont University. Elizabeth war auf dem Weg von ihrer Wohnung zur Vorlesung verschwunden. Sofort waren alle Hebel in Bewegung gesetzt und umfangreiche Suchmaßnahmen eingeleitet worden, aber zu spät. Ihre Leiche wurde in dem hohen Gras einer Schlucht nahe der Interstate 24 gefunden. Wie Müll aus dem fahrenden Auto geworfen, lag sie seit mindestens zwei Tagen dort. Die ihrer Leiche nach dem Tod zugefügten Verletzungen konnten Tieren zugeordnet werden. Es gab Unmengen an biologischen Spuren. Ihre Arme und Beine waren gefesselt. Sie
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