Tee macht tot
noch etwas mitbekam, erschüttert deswegen, weil sie es mitbekam, aber es nicht mehr ausdrücken konnte. Am meisten schmerzte es ihn jedoch, dass sie ihre letzten Momente als trostlos beschrieb.
Dieser traurige Umstand war das letzte Puzzlestückchen, das ihm zu seiner Entscheidung noch gefehlt hatte. Balthasar Sebastian Rohrasch unterschrieb die Übernahmepapiere und trat als neuer Heimleiter in ein fast morbides Unternehmen ein, dessen Bestand ebenfalls recht angeschlagen war. Unsicher war er, wie lange er diese Leutchen bei sich halten konnte.
Voller Tatendrang bugsierte er seinen Rechner in sein neues Büro und machte sich daran, sein selbst gestecktes Ziel zu erreichen. Er stellte einen neuen Arzt ein, neue Schwestern, die jedoch alle zuerst seinem Für und Wider standhalten mussten. Anschließend plante Balthasar Sebastian Rohrasch das Leben seiner Senioren, wie er es für seine Mutter getan hatte. Er schrieb ein Programm, mit dessen Hilfe St. Benedikta ein freudvolles Haus mit langer Verweildauer werden sollte. Mit 50 Jahren wähnte er sich am Ziel.
4
Gewissenhaft räumte Esther Friedrichsen ihr neues Teeschränkchen in ihrem neuen Zimmer in ihrer neuen Bleibe ein. Ackerschachtelhalm unter A. Beifuß, Brennnessel unter B. Schluchzend hielt sie inne und nestelte nach ihrem Taschentuch. Ohne ihren Karli hier zu sein, schmerzte sie. „Das überlebe ich nicht“, flüsterte sie und schniefte in ihr fliederfarbenes Tuch. Mühsam versuchte sie, die Tränen zurückzuhalten. Dass sie ihren letzten Lebensabschnitt alleine gehen musste, war schwer zu ertragen.
„Natürlich werden Sie das!“, sagte eine flache Stimme hinter ihr. „Außer, Sie fallen auf der Stelle tot um.“
Erschrocken drehte sich Esther um.
In der Tür stand eine dünne alte Frau, aus deren Nase ein Schlauch ins Nirgendwo ihres Morgenrocks führte. Ihre fahle Haut wirkte wie Pergamentpapier, das über die Knochen gespannt war. Freundlich schaute die Dame Esther an und trat mühsam, einen Schritt vor den anderen setzend, ins Zimmer. Ihre Augen versprühten, trotz ihrer Gebrechlichkeit, wahre Lebensfreude.
Esther war beeindruckt und musste sogar lachen. „Das hoffe ich nicht, dass ich jetzt tot umfalle. Jetzt, wo ich gerade einräume.“
„Sie werden sehen … schon bald …“ Um zu Atem zu kommen, machte die Frau eine Pause, sowohl im Gehen als auch im Sprechen. „… werden Sie sich hier … sehr wohl fühlen.“ Mit Esthers Hilfe ließ sie sich kraftlos auf die braungeblümte Couch sinken. Sie stellte sich als Martha Scholz vor. 98 Jahre weile sie mittlerweile auf Erden, und wenn es nach dem Rohrasch geht, würden es hundert werden. Bedenklich wackelte ihr Kopf bei diesen Worten. „Sie trinken Tee?“, fragte sie unvermittelt mit einem Blick auf Esthers Kräutergläser.
„Ja, ausschließlich. Und Wasser. Und Orangensaft. Und Kümmelschnaps nach dem Essen. Aber keinen Kaffee.“
„Kaffee trinke ich auch nicht, eigentlich trinke ich gar nichts von alledem.“ Martha schob ihren Morgenrock beiseite und ließ Esther einen Beutel sehen, der mit dem Schlauch in der Nase verbunden war. Das sei ihre Verbindung zum Leben, erklärte Martha in Seelenruhe. Durch die Demenz vergesse sie ständig das Essen und Trinken. Der Rohrasch tue aber alles, um sie auch den 100ten Geburtstag noch feiern zu lassen. Manchmal freue sie sich darauf, aber manchmal auch nicht, gestand Martha.
Esther fiel es schwer, den Blick von dem Beutel, der mit milchigtrüben fast braunem Brei gefüllt war, abzuwenden. Mitfühlend vergaß sie bei diesem Anblick sogar ihren eigenen Kummer. Betroffen sank sie neben Martha auf die Couch. Dass man das Essen vergessen konnte, war für Esther eine erschreckende Vorstellung, wo sie doch so gerne aß.
„Ist es denn nicht schrecklich, die Selbstverständlichkeiten des Lebens zu vergessen?“, fragte Esther unverblümt. „Wenn ich in Ihre Augen sehe, machen Sie nicht den Eindruck, als hätten Sie je das Leben vergessen.“
„Heute so, morgen so. Aber keine Sorge!“, wackelte Martha mit ihrem Kopf, „heute ist ein guter Tag. Meine Erinnerungen an gestern sind zwar weg, aber dann waren sie auch nicht so wichtig. Die Lücke kann ich mit den heutigen Erlebnissen füllen.“
„Mit welcher Gelassenheit Sie das sagen! Dabei hätten Sie allen Grund, um zu klagen“, meinte Esther einfühlsam.
„Ach Kindchen!“, dabei tätschelte Martha Esthers Hand, „man muss mit dem arbeiten, was einem das Leben
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