Teller, Janne
eingeklemmt, und der Weg vom Sägewerk nach Hause
war viel weiter als sonst. Ich weinte, als ich in meine Straße einbog, und
ging das letzte Stück zum Haus allein.
Ich ging
nicht hinein, sondern setzte mich in den Fahrradschuppen, wo man mich weder
von der Straße noch vom Haus aus sehen konnte. Ich zog Sofies Turnschuhe aus
und schleuderte sie in eine Ecke. Vor meinem inneren Auge leuchtete das Bild
von meinen halbhohen grünen Sandalen ganz oben auf dem Berg aus Bedeutung. Es
wollte nicht verschwinden. Ich schaute auf meine nackten Füße und beschloss,
dafür müsse Gerda bezahlen.
6
Drei Tage
brauchte ich, um Gerdas wunden Punkt herauszufinden, und in diesen drei Tagen
war ich total nett zu ihr. Ich hatte mir nie etwas aus Gerda gemacht. Sie hatte
so eine Art, beim Sprechen zu spucken, und noch mehr, wenn sie lachte, und das
tat sie fast die ganze Zeit. Außerdem wollte sie Marie-Ursula nicht in Ruhe
lassen, und Marie-Ursula war meine beste Freundin und etwas Besonderes, denn
sie hatte nicht nur blaue Haare und sechs Zöpfe, sondern sie war auch immer
ganz schwarz angezogen. Ich hätte auch nur schwarze Sachen getragen, wenn meine
Mutter das nicht dauernd sabotiert hätte, indem sie Buntes kaufte. So musste
ich mich mit einer schwarzen Hose, zwei schwarzen T-Shirts mit Witzen auf
Englisch und einem schwarzen Wollpullover begnügen, der aber für Anfang
September zu warm war. Aber nun ging es ja um Gerda.
Ich
tauschte Haargummis mit Gerda, flüsterte mit ihr über Jungen und vertraute ihr
an, dass ich den großen Hans ziemlich gut fände. (Was überhaupt nicht stimmte,
aber auch wenn man nicht lügen soll, gehörte das zu dem, was mein großer Bruder höhere
Gewalt nannte.
Ich wusste nicht ganz genau, was das bedeutete, aber es hieß auf jeden Fall,
dass man zur Not einmal lügen durfte.)
In den
beiden ersten Tagen war die Ausbeute nicht groß. Gerda mochte offenbar kaum
etwas gern. Oder sie hatte mich durchschaut. Von ihrer Großmutter hatte sie
ein paar alte Poesiealbum-Bilder bekommen, aber ich wusste, dass sie nicht
mehr mit ihnen gespielt hatte, seit wir in der fünften Klasse waren. Dann
zeigte sie mir ein Foto von Tom Cruise, in den sie total verknallt war
und dem sie jeden Abend vorm Zubettgehen einen Gutenachtkuss gab. Sie hatte
auch einen ganzen Stoß Heftchenromane über Ärzte, die Krankenschwestern küssen
und dann glücklich bis ans Ende ihrer Tage leben. Ich muss zugeben, dass ich
sie manchmal gern ausgeliehen hätte, und Gerda hätte sicher die eine oder
andere Träne vergossen, wenn sie die hätte hergeben müssen, aber trotzdem war
das ziemlicher Quatsch und nichts Richtiges. Nein, erst am dritten Tag kam ich
drauf.
Als wir in
Gerdas Zimmer saßen und Tee tranken und eine Kassette hörten, die sie gerade
von ihrem Vater bekommen hatte, da entdeckte ich Gerdas wunden Punkt. An den
beiden anderen Tagen hatten wir in dem Zimmer gesessen, das Gerda bei ihrer
Mutter hatte und das voller Mädchenkram und Nippes war. Jetzt waren wir in dem
Zimmer, das Gerda bei ihrem Vater hatte, wo sie jede zweite Woche wohnte. Und
es waren nicht der Stereokassettenrekorder oder der aufblasbare Plastiksessel
oder die Poster an den Wänden, weshalb das Zimmer anders war als das bei ihrer
Mutter, denn dort hatte sie auch einen Stereokassettenrekorder und einen aufblasbaren
Plastiksessel und Poster an den Wänden. Besonders war das Zimmer im Haus von
Gerdas Vater deshalb, weil da der riesige Käfig mit dem winzigen Hamster in
einer Ecke stand.
Der
Hamster hieß Klein Oskar, und am nächsten Tag sagte ich, Gerda müsse für den
Berg aus Bedeutung Klein Oskar abliefern.
Gerda
weinte und sagte, sie würde allen das vom großen Hans erzählen. Nein, was habe
ich gelacht, als ich erzählte, das sei gelogen und höhere Gewalt. Da musste Gerda noch viel mehr
weinen, und sie sagte, ich sei die abscheulichste Person, die sie kennt. Und
als sie zwei Stunden lang geweint hatte und immer noch untröstlich war, hätte
ich es fast bereut und dachte, sie hätte vielleicht recht .
Aber dann sah ich wieder meine halbhohen grünen Sandalen oben auf dem Berg und
gab nicht nach.
Marie-Ursula
und ich begleiteten Gerda nach Hause, um Klein Oskar sofort zu holen; sie
sollte unter keinen Umständen entkommen.
Gerdas
Vater wohnte in einem der neuen graubraunen Klinkerreihenhäuser, jedenfalls
außen auf dem Beton waren Klinker. In allen Zimmern gab es große, mühelos
gleitende Fenster. Das Haus lag am entgegengesetzten
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