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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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meinte, sie könne einen Drink vertragen. Ich fuhr zum Haus ihrer Eltern, wo sie und ihr elf Monate alter Sohn Matthew seit den Anschlägen wohnten. Als sie die Tür öffnete, sah sie genauso aus wie immer. Matthew, der sich hinter ihrem Bein versteckte, hatte ihre großen braunen Augen mit dem zimtfarbenen Fleck in der Mitte. Er starrte mich an, als würden wir uns kennen, was in gewisser Weise auch zutraf. Er sah aus, als hätte eben ein wichtiger Mensch das Zimmer verlassen und er fragte sich, wann dieser Jemand zurückkommen würde.
    Ich lud Michelle zum Essen in Port Washington ein, und sie erzählte mir von ihrem Mann Mike Lunden, einem Stromhändler mit einer Vorliebe für Fliegen, Zigarren, Hockey, Hochzeiten, Chicago, guten Wein – und für sie. Sie beschrieb die Zeit, in der sie sich näher kennen lernten und ihre glückliche Ehe. Obwohl sie mit ihrem neugeborenen Kind in einer Studiowohnung lebten, sagte sie, gingen sie sich nie auf den Wecker. Als Michelle erzählte, fiel mir auf, dass auch sie eine Absolventin der Publicans-Akademie für Geschichtenerzählen war. In der einen Sekunde brachte sie mich zum Lachen, in der nächsten blieb es mir im Halse stecken.
    Sie erkundigte sich nach mir. War ich inzwischen verheiratet? Ich sagte ihr, dass ich ein- oder zweimal kurz davor gestanden hatte, aber erst noch etwas erwachsener hatte werden müssen. Außerdem hatte ich lange gebraucht, um meine erste Liebe zu verwinden.
    »Stimmt«, sagte sie. »Was ist aus ihr geworden, wie hieß sie noch?«
    »Sidney.« Ich räusperte mich. »Als sie erfuhr, dass ich in Harvard war, rief sie mich aus heiterem Himmel an. Wir haben uns zum Abendessen verabredet.«
    »Und?«
    »Sie war wie immer.«
    »Und?«
    »Ich hatte mich verändert.«
    Sidney hatte mir behutsam und ehrlich erklärt, warum sie sich damals nicht für mich entschieden hatte. Ein junger Mann, der so auf eine Bar fixiert war, hatte ihr Angst gemacht. Ich gestand Michelle, dass Sidneys Angst nicht unbegründet war.
    Nach dem Essen ging ich mit Michelle auf einen Schlummertrunk ins frühere Publicans. Wir saßen in der Nische bei der Tür, und ich merkte, wie Michelles Lebensgeister mit den guten alten Erinnerungen langsam wieder erwachten. Aber ihre Gedanken kehrten schnell wieder zu ihrem Mann zurück. Er war ein so guter Mensch, sagte sie, wiederholte mehrmals die Worte »ein guter Mensch«. Und er war so begeistert von Matthew, sagte sie. Jetzt würde Matthew seinen Vater nur durch Briefe und Fotos und Geschichten kennen. Sie machte sich Sorgen, weil ihr Sohn ohne Vater aufwachsen und wie diese Lücke ihn prägen würde. »Zumindest hat er seine Onkel«, sagte sie seufzend. »Und seine Cousins. Er ist verrückt nach seinen Cousins. Außerdem wird er in der Schule viele andere Kinder treffen, die ihren Vater verloren haben, deshalb wird er sich wohl nicht – anders fühlen.«
    Ich lehnte mich in meinem Sitz zurück. Bisher war mir das nicht klar gewesen. Manhasset, wo ich mich früher oft als der einzige Junge ohne Vater gefühlt hatte, war jetzt eine Stadt voller vaterloser Kinder.
    Monatelang arbeitete ich an meiner Geschichte über Manhasset, pendelte zwischen meiner Wohnung in Harvard und dem Hotelzimmer hin und her, bis die Verleger mir sagten, meine Zeit sei um. Sie brauchten mich in Denver. Schließlich setzte ich mich hin und schrieb. Ich schrieb über die nicht endenden Beerdigungen, die auch nach Monaten noch stattfanden. Ich schrieb über die Stimmung in der Plandome Road, wo Bars und Kirchen ungewöhnlich voll waren. Ich schrieb über die Witwe, die es nicht übers Herz brachte, das Auto ihres Mannes vom Bahnhof abzuholen. Wochenlang stand das Auto dort, übersät mit Kerzen und Schleifen und Zeilen der Anteilnahme und Liebe. Von Zeit zu Zeit erschien sie und versuchte vergeblich, das Auto wegzufahren, und die Leute auf der Plandome Road sahen zu, wie sie hinterm Steuer saß, vor sich hin starrte und nicht in der Lage war, den Zündschlüssel umzudrehen. Ich schrieb wie im Fieber, wie in Trance über meine Heimatstadt, und zum ersten Mal erlebte ich Schreiben als Katharsis. Die Worte strömten aus mir heraus, sie fanden sich ohne Anstrengung. Das Schwierige war, sie wieder abzustellen.
    Als die erste Fassung fertig war, machte ich eine Rundfahrt. Ich fing beim Memorial Field an, wo ich mich in die Sonne setzte, ganz benommen von Nostalgie und Erschöpfung. Ich betrachtete den Baseballplatz und erinnerte mich daran, als ich mit sieben die

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