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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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Jimbo, weil ich die Zeit im Publicans nicht entweihen wollte. In den Tagen nach dem 11. September war ich dankbar für jede Minute, die ich in dieser Bar verbracht hatte, selbst die, die ich im Nachhinein bedauerte. Ich war mir der Widersprüchlichkeit dieser Regung bewusst, aber nichtsdestotrotz traf sie zu. Die Anschläge verkomplizierten meine ohnehin schon widersprüchlichen Erinnerungen ans Publicans. Da öffentliche Örtlichkeiten plötzlich als ungeschützte Ziele galten, konnte ich nur Sympathie empfinden für eine Bar, die auf der antiquierten Idee beruhte, je mehr Menschen, umso größer die Sicherheit. Als ich in meinem schwarzen Anzug inmitten der Ruinen des Publicans saß, liebte ich die alte Kneipe mehr denn je.
    Ich bat Georgette, mir von der letzten offiziellen Nacht im Publicans zu erzählen. »Ach, alle haben geweint«, sagte sie, vor allem Joey D, der so betreten war, dass er früher gehen musste. Er wurde Lehrer an einer städtischen Schule in der Bronx. Vierte Klasse. An seinem ersten Schultag, erzählte Joey D mir später, schrieb er seinen Namen an die Tafel, dann drehte er sich schnell um. »Alle haben mich angesehen«, sagte er. »Und ich dachte: Okay, ich schaffe das.« Ichschaffedas. Einen Teil seines Lebens hatte er damit verbracht, in ein Meer durstiger Gesichter zu blicken, jetzt sah er sich einer Wand von Gesichtern gegenüber, die nach Wissen hungerte. Wahrscheinlich gab er einen guten Lehrer ab. Die Kinder waren sicher begeistert von seiner Schmusemaus. Und wehe jedem kleinen Rowdy, der auf Joey Ds Spielplatz eine Schlägerei provozierte.
    Fast Eddy bestand darauf, dass er die letzte Runde im Publicans spendierte, erzählte uns Georgette. Als das letzte Glas gespült, die letzte Zigarette ausgedrückt war, löschte General Grant das Licht und schloss die Tür zu. Ich konnte mir gut vorstellen, wie seine Zigarre durch die pechschwarze Bar schwebte wie das Bremslicht eines Motorrads auf einer Landstraße. Ich betrachtete die Sitznischen und Hocker – alle waren sie leer, aber dennoch hörte ich das Lachen. Ich hörte die Stimmen von jenem letzten Abend, von jedem Abend in den letzten Jahrzehnten. An diesem Ort, dachte ich, waren wir früher immer präsent, jetzt wird er immer in unserer Erinnerung präsent sein.
    Georgette bestellte noch ein Glas Wein. Jimbo und ich bestellten Cheeseburger. Sie schmeckten nicht mehr so gut, weil Fuckembabe und Smelly nicht mehr in der Küche standen und die Burger packten. Fuckembabe war tot, Smelly arbeitete irgendwo in Garden City. Ich erkundigte mich nach Bobo. Weder Jimbo noch Georgette wussten, wohin er verschwunden oder was aus ihm geworden war.
    Georgette fragte nach meiner Mutter. Ich erzählte ihr, dass es meiner Mutter gut ging, sie immer noch in Arizona lebte und obwohl sie immer noch gegen Müdigkeit und ein paar andere gesundheitliche Probleme kämpfte, bald in Rente zu gehen hoffte. Dann wollte Georgette wissen, was ich so treibe. Was hatte ich in den letzten elf Jahren mit mir angestellt? Ich erzählte ihr, dass ich 1990, nachdem ich ein paar Monate bei Jimbo in den Rocky Mountains gewohnt hatte, mit McGraw nach Denver gezogen war. Ich fand einen Job bei den Rocky Mountain News, wo ich in vier Jahren das wesentliche Handwerk lernte, das mir bei der New York Times gefehlt hatte. McGraw ging zurück nach Nebraska und fand Arbeit bei einem kleinen Radiosender, wo er sein Stottern bezwang und seine Berufung entdeckte. Er war immer ein Redner, sagte Georgette und lächelte. Ein Charmeur, sagte ich. Ein Komödiant, sagte Jimbo. Und jetzt war er ein Star. Sein Kichern war in vierzig Staaten zu hören.
    1994 wurde ich Reporter für die Los Angeles Times, 1997 beförderte man mich zum Landeskorrespondenten mit Sitz in Atlanta. Im Jahr 2000 erhielt ich ein Journalistenstipendium an der Harvard University, und dort unternahm ich einen zweiten Versuch mit dem Buch über die Bar, inzwischen wollte ich es allerdings nicht mehr als Roman anlegen, sondern als eine Art Sachbuch. Aber es wurde wieder nichts. Als mein Stipendium endete, boten mir die Herausgeber der Times eine Korrespondentenstelle im Westen an, um die Region der Rocky Mountains von Denver aus abzudecken. Gerade war ich in Denver angekommen, um mir die Stadt anzusehen und herauszufinden, ob ich mir vorstellen könnte, wieder dort zu leben, als die Türme angegriffen wurden.
    »Du kannst die Zukunft nicht vorhersehen«, sagte Georgette leise.
    »Früher war ich anderer Meinung«, sagte ich

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