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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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zu ihr. An dem Abend, als ich dem Publicans für immer den Rücken kehrte, hatte ich vor Cager, Dalton und Onkel Charlie geprahlt, dass ich mir, was meine Zukunft anging, in zwei Punkten sicher sei: Ich würde nie im Leben in Kalifornien oder im Süden leben. Als ich Korrespondent für die südliche Region bei der Los Angeles Times wurde, war mir klar, dass das Universum unser Gespräch im Publicans mitgehört und das Universum einen komischen Sinn für Humor hatte. Georgette lächelte wehmütig und gab mir recht.
    Langsam wurde es dunkel. Georgette musste nach Hause. Jimbo und ich begleiteten sie zum Parkplatz. Sie küsste uns beide und sagte, Steve wäre stolz auf das, was aus uns geworden war. Meldet euch, sagte sie.
    Machen wir, versprachen wir. Ganz bestimmt.
    Ich konnte nicht nach Denver ziehen. Noch nicht. Ich konnte nicht von der Ostküste weg, ohne zuvor etwas über meine Heimatstadt und über die Auswirkungen der Anschläge auf sie zu schreiben. Ich behielt mein Zimmer in Harvard, wohnte aber vorwiegend in Manhasset, in einem Hotel außerhalb der Stadt, ging tagsüber die Plandome Road auf und ab, interviewte Fremde, frischte alte Bekanntschaften auf. Wie ich erfuhr, traf sich der Großteil der alten Gang aus dem Publicans jetzt in einem neuen Laden an der Plandome Road. Ich postierte mich dort zur Happy Hour, und schon kamen sie nacheinander durch die Tür, ein bisschen grauer, sehr viel trauriger. Gerade hatte ich David Copperfield noch einmal gelesen – zur Zerstreuung, zum Trost – und ich musste an eine Zeile gegen Ende des Romans denken, als David »die wandelnden Überreste« seiner Kindheit beklagt.
    DePietro kam herein, er trug einen schwarzen Anzug, kam von seiner zwanzigsten Beerdigung zurück. Don, ebenfalls im schwarzen Anzug, kannte einen Mann, der bei fünfzig Begräbnissen anwesend war. Wir unterhielten uns stundenlang, und jemand am Tresen beschrieb mir, wie die Asche von den Türmen bis übers Wasser geschwebt war. Ich musste an das marschige Stück Land gleich außerhalb von Manhasset denken, das Fitzgerald »Tal der Asche« genannt hatte. Irgendwie nahm seine Beschreibung jetzt die Form einer grausigen Prophezeiung an.
    Ich fragte nach Dalton. Er und Don hatten ihre Partnerkanzlei aufgelöst, Don arbeitete glücklich und zufrieden allein über Louie the Greek’s. Zuletzt hatte Don gehört, dass Dalton irgendwo in Mississippi war und versuchte, einen Gedichtband herauszugeben.
    Cager kam herein und sah noch genauso aus, die roten Haare quollen immer noch aus der anscheinend gleichen alten Schildkappe. Er gab mir die Hand und fragte, wie es mir ginge – und ob ich immer noch ein Fan von Pferderennen sei. »Nein«, erwiderte ich. »Mit Dingen, in denen ich schlecht bin, habe ich aufgehört.«
    »Aber trotzdem schreibst du noch«, sagte er. Er klopfte mir auf den Rücken und wollte mir einen Drink spendieren, zog mich aber nicht auf, als ich eine Cola verlangte.
    Wir unterhielten uns darüber, wie es um die Welt stand, und alle Männer an der Theke mischten sich ein, während die Bildschirme über der Bar Filme von den brennenden Türmen zeigten und von Menschen, die Fotos ihrer noch vermissten Geliebten in der Hand hielten. Mir fiel auf, wie rasch jede Unterhaltung wieder in die 1980er Jahre zurückkehrte, und das nicht nur, weil diese Zeit unser gemeinsames Band darstellte. Wir alle waren Meister darin, bestimmte Orte zu idealisieren, und nach dem 11. September blieb nur noch ein Ort, der zu idealisieren war, ein Ort, der uns nie desillusionierte. Die Vergangenheit. Nur Colt verspürte kein Verlangen, über die Vergangenheit zu reden, weil er sich nicht mehr an sie erinnerte. »Komm mir nicht mit den Achtzigern«, sagte er. »Ich war nicht dabei.«
    Später am Abend, ich stand zwischen Cager und Colt, landete plötzlich ein schwerer Arm auf meiner Schulter. Ich drehte mich um. Bob the Cop. Sein Haar war vollkommen weiß geworden und er sah erschöpft aus. »Wo kommst du denn her?«, fragte ich.
    »Ground Zero.«
    Natürlich.
    Er setzte sich zu mir und sah mir tief in die Augen.
    »Wie geht es dir?«, sagte ich.
    »Nach fünfundzwanzig Jahren Dienst dachte ich, mich kann nichts mehr erschüttern.« Er schaute mich immer noch an, dann schloss er die Augen und schüttelte langsam den Kopf von einer Seite zur anderen.
    Nach einiger Zeit brachte ich den Mut auf, Michelle anzurufen. Ich sagte ihr, dass ich vom Schicksal ihres Mannes gehört hätte und ob ich etwas für sie tun könne. Sie

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