Tenebra 1 - Dunkler Winter
gerade in diesem Augenblick in den Ballsaal stürmten, als gelte es eine Wirtshausschlägerei zu beenden. Sie hatten die Schwerter gezogen - die Hellebarden waren nur zur Schau gewesen, wie ich gedacht hatte - und kamen nach zehn oder zwölf Schritten zum Halten. Die Stille und das offensichtlich unkriegerische Geschehen brachten sie für einen Augenblick in Verlegenheit, bis Barras sie vorwärtstrieb.
Sein Gesicht bot eine Maske grimmiger Entschlossenheit. Er musste Befehle ausgegeben haben, bevor sie den Saal gestürmt hatten, weil ein halbes Dutzend Gardisten sich auf die Schwertjungfrau stürzte, und der Rest auf uns. Sie und Silvus waren klug genug, stillzuhalten, und ich folgte ihrem Beispiel. Wenn es brenzlig wurde, konnte ich mich wenigstens darauf herausreden, dass ich bloß die Befehle meines Vorgesetzten ausgeführt hatte.
Sie packten sie bei den Armen, entwaffneten sie und umringten uns. Offensichtlich brannten sie darauf, uns bei der geringsten Andeutung von Gegenwehr niederzumachen. Hrudis Winterridge war besonnen genug, sich nicht an ihre Hellebarde zu klammern, und stand bewegungslos, größer als sie, wie ein von Jagdhunden umzingelter Wolf.
Baras hatte sich nicht die Mühe gemacht, sein Schwert zu ziehen. Jetzt aber zog er einen schmalen Dolch und kam auf sie zu. Sie sah ihn scheinbar gleichmütig kommen. Gleichzeitig wurden Silvus und ich entwaffnet. Nun waren wir wirklich machtlos zu verhindern, was immer geschehen würde. Nicht dass wir vorher eine Chance gehabt hätten.
»Nein!«
Das war Graf Ruane. Barras überhörte den Zwischenruf; er konnte es sich leisten. Er schob einen seiner Gardisten aus dem Weg und nahm Maß für den Dolchstoß. Ich erkannte, dass er sie töten würde. Er musste auf ihre Kehle zielen - der Rest war durch den Kettenpanzer hinreichend geschützt, um einen Dolchstoß aufzuhalten. Aber die lange, zugespitzte Klinge würde nicht zum Schneiden eingesetzt werden. Wie er den Dolch hielt, wollte er ihn ihr unter das Kinn aufwärts ins Gehirn stoßen. Er holte aus.
»Halt.«
Ich weiß jetzt, warum Fürst Nathan ihn zurückrief. Zum Zeitpunkt des Geschehens dachte ich, es müsse ein gewisser Widerwille gewesen sein, seine absolute Herrschaft allzu offensichtlich zu beweisen. Oder vielleicht missfiel ihm der Gedanke, am Abend des Hofballes vor den Augen aller Gäste ein Blutvergießen zu veranstalten und allen Teilnehmern das festliche Ereignis zu verderben. Heute weiß ich, dass es keiner dieser Gründe war. Aber das fand ich erst später heraus. Der Fürst war immer weitblickender als die meisten.
Er schlenderte näher. »Geben Sie sie frei. Mein lieber Barras, Sie überraschen mich. Die Dame ist eine Abgesandte. Ungeachtet der zu verurteilenden Art und Weise ihres Eindringens und der ziemlich - hm - zwanglosen Methode, ihre Referenzen vorzulegen, ist sie so zu behandeln, wie es uns und diesem ehrwürdigen Ort geziemt.«
Die Gardisten ließen von ihr ab.
Sie nahm die Hellebarde zurück, ohne hinzusehen, als ob sie immer wüsste, wo sie war. Dann zeigte sie Fürst Nathan in Verkennung der wahren Machtverhältnisse die gepanzerte Schulter und wandte sich an den Grafen. »Ich bitte um Entschuldigung, Durchlaucht. Es war keine Beleidigung beabsichtigt. Die Zeit drängt.«
Nathan räusperte sich und Graf Ruane nahm es als einen Wink. »Das will reiflich überlegt sein«, begann er. »Dafür brauchen wir Zeit…«
»Zeit ist leider, was wir nicht haben, Durchlaucht. Das Dunkel ist ausgebrochen.«
Das wirkte auf die Hofgesellschaft wie ein kalter Windstoß. Die leuchtenden Farben und funkelnden Edelsteine schienen zu erschauern. Das Dunkel hatte noch immer die Macht, selbst diese Leute zu ängstigen, die noch nie einen zornigen Troll gesehen hatten. Ein Gemurmel erhob sich, aber die silberhelle Stimme der Schwertjungfrau übertönte es mit Leichtigkeit.
»Wir wissen aus sicherer Quelle, dass sich in Ctersi eine Flotte versammelt. Wenn der Herbst zu Ende geht, wird sie segeln. Es gibt weder eine Flotte, die wir ihr entgegensetzen könnten, noch genug Zeit, eine zu bauen. Aber der Schlag muss gegen Ys geführt werden. Und Ys darf nicht fallen.«
Totenstille. Fürst Nathan verschränkte die Arme auf der Brust.
»Das Dunkel, wie?« Seine Stimme troff von Ironie. »Dann wird es auch Drachen geben? Trolle? Vielleicht ist auch ein Basilisk dabei? Und vor allem ein mächtiger Zauberer?«
Die weniger sensiblen Höflinge im Umkreis lachten. Aber Ironie und Heiterkeit verfehlten
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