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Tensegrity. Die magischen Bewegungen der Zauberer

Tensegrity. Die magischen Bewegungen der Zauberer

Titel: Tensegrity. Die magischen Bewegungen der Zauberer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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Sozialisation und der menschlichen Möglichkeiten.
    Rekapitulieren heißt, jede oder beinah jede Erfahrung, die wir hatten, wiederzuerleben und dadurch den Montagepunkt ein kleines oder auch ein größeres Stück zu verschieben und ihn durch die Kraft der Erinnerung anzutreiben, jene Position einzunehmen, die er innehatte, als das rekapitulierte Ereignis stattfand. Das Hin- und Herwechseln zwischen früheren Positionen und der gegenwärtigen verleiht den Schamanen die notwendige Beweglichkeit, um große Schwierigkeiten auf ihrer Reise ins Unendliche zu bestehen. Jemandem, der Tensegrity ausübt, verschafft die Rekapitulation die notwendige Flexibilität, um Widrigkeiten zu bestehen, die außerhalb der gewohnheitsmäßigen Wahrnehmung liegen.
    Die Rekapitulation als formales Verfahren verlangte in alten Zeiten, daß man sich an alle Personen erinnerte, denen man begegnet war, und an alle Erfahrungen, die man gemacht hatte. In meinem Fall, dem typischen Fall des modernen Menschen, empfahl Don Juan, als Gedächtnishilfe ein schriftliches Verzeichnis aller Personen anzulegen, die ich in meinem Leben kennengelernt hatte. Nachdem ich diese Liste erstellt hatte, sagte er mir, wie ich sie benutzen sollte. Ich mußte mit der ersten Person auf der Liste, die von der Gegenwart bis in die Zeit meiner allerersten Lebenserfahrungen zurückreichte, anfangen und in meiner Erinnerung die letzte Interaktion mit dieser Person wiedererleben. Dies nennt man das Arrangieren des zu rekapitulierenden Ereignisses.
    Eine genaue Erinnerung an die kleinsten Einzelheiten ist das notwendige und geeignete Mittel, um die Erinnerungsfähigkeit zu schärfen. Das verlangt, daß alle physischen Details erfaßt werden, wie etwa die Umgebung, in der das erinnerte Ereignis stattfand. Sobald das Ereignis arrangiert ist, sollte man sich in Gedanken an die betreffende Lokalität begeben, aber so, als ob man tatsächlich dorthin ginge, und dabei besonders auf relevante physische Merkmale achten. Wenn die Interaktion zum Beispiel in einem Büro stattfand, sollte man sich an den Fußboden, die Türen, die Wände, die Bilder an den Wänden, die Fenster, die Schreibtische, die Gegenstände auf den Schreibtischen erinnern, an alles, was man mit einem flüchtigen Blick wahrgenommen und dann vergessen haben könnte.
    Die Rekapitulation als formales Verfahren muß mit der Erinnerung an Ereignisse beginnen, die eben erst stattgefunden haben. Auf diese Weise haben die primären Erfahrungen Vorrang. Was eben erst passiert ist, daran kann man sich mit größerer Genauigkeit erinnern. Die Zauberer verlassen sich stets auf die Tatsache, daß der Mensch detaillierte Informationen speichern kann, deren er sich nicht bewußt ist, und sind der Überzeugung, daß es das dunkle Meer des Bewußseins genau auf diese Einzelheiten abgesehen hat.
    Die tatsächliche Rekapitulation des Ereignisses verlangt, daß man tief durchatmet und den Kopf sozusagen wie einen Fächer ganz langsam und behutsam hin und her bewegt. Dabei ist es gleichgültig, ob man von links oder von rechts beginnt. Das
    Fächeln mit dem Kopf soll so oft wie nötig geschehen, während man sich an alle verfügbaren Einzelheiten erinnert. Die Zauberer, sagte Don Juan, sprachen in diesem Zusammenhang vom Einatmen aller eigenen, im Verlauf des erinnerten Ereignisses eingebrachten Gefühle und vom Ausatmen aller unerwünschten Stimmungen und fremden Gefühle, die in uns zurückgeblieben sind.
    Die Zauberer glauben, daß das Geheimnis der Rekapitulation in dieser Art des Ein- und Ausatmens liegt. Da der Atem eine lebenserhaltende Funktion ist, sind die Zauberer überzeugt, daß man mit seiner Hilfe auch dem dunklen Meer des Bewußtseins ein Faksimile der eigenen Lebenserfahrungen liefern kann. Als ich Don Juan um eine rationale Erklärung dieses Gedankens bat, stellte er sich auf den Standpunkt, daß Dinge wie die Rekapitulation nicht erklärt, sondern nur erfahren werden könnten. Nur im Tun, sagte er, könne man Befreiung finden. Das Tun zu erklären, bedeute, Energie in fruchtlosen Anstrengungen zu verzetteln. Seine Aufforderung entsprach in jeder Hinsicht seinem Wissen als Zauberer. Es war die Aufforderung, selbst zu handeln.
    Das Namenverzeichnis wird bei der Rekapitulation als Gedächtnishilfe benutzt, mit der man die Erinnerung auf eine unvorstellbare Reise schickt. Die Zauberer stehen in dieser Hinsicht auf dem Standpunkt, daß die Erinnerung an Ereignisse, die eben erst stattgefunden haben, den Boden für

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