Tensegrity. Die magischen Bewegungen der Zauberer
Menschen verstünden für gewöhnlich unter Wahrnehmung etwas, das in Wirklichkeit eine Interpretation von Sinnesdaten sei. Vom Augenblick der Geburt an, sagte er, liefert uns unsere Umwelt eine Möglichkeit der Interpretation. Mit der Zeit entwickelt sich diese Möglichkeit zu einem umfassenden System, mit dessen Hilfe wir jeden Wahrnehmungsakt in der Welt durchführen.
Don Juan betonte, daß der Montagepunkt nicht nur das Zentrum ist, wo die Wahrnehmung montiert wird, sondern auch das Zentrum, wo die Interpretation der Sinnesdaten geschieht. Wenn er also seine Position wechselt, so wird er die neu einfließenden Energiefelder auf dieselbe Weise interpretieren wie die alltägliche Welt. Die Folge dieser neuen Interpretation ist die Wahrnehmung einer Welt, die der unseren eigentümlich ähnlich und doch ihrem Wesen nach verschieden ist. Energetisch könnten sich diese anderen Welten, wie Don Juan sagte, von der unseren nicht stärker unterscheiden. Nur die Interpretation, die der Montagepunkt liefert, ist für die scheinbaren Ähnlichkeiten verantwortlich.
Don Juan forderte eine neue Syntax, die geeignet wäre, diese erstaunlichen Eigenschaften des Montagepunktes und auch die
Syntax unserer Sprache vermutlich zwingen könnte, solche Dinge zu erfassen, falls diese Erfahrung allen zugänglich wäre und nicht nur initiierten Schamanen.
Mich interessierte und verwirrte im Zusammenhang mit dem Träumen besonders Don Juans Aussage, daß es tatsächlich kein ernstzunehmendes Verfahren gibt, nach dem jemand lernen könnte zu träumen. Das Träumen, sagte er, sei vor allem die mühsame Anstrengung, sich mit der unbeschreiblichen, alles durchdringenden Kraft in Verbindung zu setzen, die die Zauberer des alten Mexiko als Intention bezeichneten. Sobald diese Verbindung hergestellt sei, würde sich auch das Träumen auf geheimnisvolle Weise einstellen. Don Juan betonte, daß die Verbindung hergestellt werden kann, wenn man ein Leben führt, das Disziplin verlangt.
Als ich ihn bat, mir eine kurze Erklärung des betreffenden Verfahrens zu geben, lachte er.
»Es ist etwas anderes, sich in die Welt der Zauberer vorzuwagen«, erwiderte er, »als Autofahren zu lernen. Um Auto zu fahren, braucht man Lehrbücher und Fahrstunden. Um zu träumen, muß man es intendieren.«
»Aber wie kann ich es intendieren?« beharrte ich.
»Die einzige Art, es zu intendieren, ist, es zu intendieren«, erklärte er. »Der Mensch unserer Zeit kann nur sehr schwer akzeptieren, daß es für etwas kein Verfahren gibt. Der Mensch unserer Zeit ist ein Sklave von Lehrbüchern, Leitfäden, Übungen und Verfahren. Unaufhörlich macht er Notizen und Diagramme und bemüht sich stets um das Know-how. Doch in der Welt der Zauberer sind Verfahren und Rituale lediglich Mittel, um die Aufmerksamkeit zu wecken und zu konzentrieren. Es sind Hilfsmittel, die dazu dienen, die Konzentration von Interesse und Entschlossenheit zu erzwingen. Einen anderen Wert haben sie nicht.«
Don Juan hielt für die wichtigste Voraussetzung zum Träumen die konsequente Ausführung der magischen Bewegungen, denn sie sind das einzige Hilfsmittel, das die Zauberer seiner Tradition anwendeten, um die Verschiebung des Montagepunktes zu unterstützen. Das Ausführen der magischen Bewegungen gab diesen Zauberern die notwendige Stabilität und Energie, um ihre Traum-Aufmerksamkeit zu wecken, ohne die es für sie keine Möglichkeit des Träumens gab. Würde die Traum-Aufmerksamkeit ausbleiben, könnte man bestenfalls auf klare Träume von Phantasiewelten hoffen. Man hätte vielleicht Einblick in Welten, die Energie erzeugen, aber diese Welten würden unverständlich bleiben, solange ein umfassendes Prinzip fehlt, um sie richtig einzuordnen.
Nachdem die Zauberer ihre Traum-Aufmerksamkeit entwickelt hatten, wurde ihnen klar, daß sie an den Pforten der Unendlichkeit standen. Es war ihnen gelungen, die Parameter ihrer normalen Wahrnehmung zu erweitern. Sie entdeckten, daß ihr normaler Bewußtseinszustand unendlich vielgestaltiger wurde, als er es gewesen war, bevor ihre Traum-Aufmerksamkeit hinzukam. Von nun an konnten sich die Zauberer wirklich ins Unbekannte vorwagen.
»Der Aphorismus, daß nur der Himmel die Grenze ist«, sagte Don Juan mir eines Tages, »war für die Zauberer alter Zeiten Wirklichkeit. Sie übertrafen sich selbst.«
»War für die Zauberer wirklich nur der Himmel die Grenze, Don Juan?« fragte ich.
»Diese Frage kann jeder von uns nur selbst beantworten«, sagte er
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