Tentakelblut (German Edition)
Abenteuer stand ihnen bevor. Es würde spannend werden.
Das würde es wohl , dachte Roby.
Dann blieb jemand in der Kolonne stehen. Er starrte Roby an, kam dann einige Schritte näher. Es war ein Mann, unbewaffnet, in einem zerrissenen Anzug, der sicher einmal passabel ausgesehen hatte. Sein Haar stand ihm vom Kopf ab, er trug eine Brille und er sah aus, als hätte er in den letzten Wochen einige Kilo abgenommen, denn die Kleidung war ihm ein wenig zu groß.
Erst konnte Roby nicht verstehen, warum er auf ihn zukam. Doch dann erinnerte er sich.
Er kannte den Mann. Es war … sein Anwalt. Der Typ, der damals dafür gesorgt hatte, dass er direkt und ohne große Verhandlung für die Tentakelwacht unterschreiben konnte. Er war kaum wiederzuerkennen. Wo sein Körper vorher füllig gewesen war – Roby erinnerte sich vor allem an die voluminösen Waden und den Tortenarsch, der ohne Zweifel Produkt von zu viel preiswerter Schokolade gewesen war –, wirkte der Mann jetzt hager und beinahe durchtrainiert, als hätte er sich intensiven Übungen im Fitnessclub unterzogen – oder einer umfassenden kosmetischen Operation.
»Sie erkennen mich?«, sagte der Anwalt mit einem schon fast schüchternen Unterton.
»Ol Joks«, erwiderte Roby und schaute den Mann fragend an.
»Genau. Ich war … Ihr Anwalt.«
»Ich erinnere mich daran, mit Ihnen geredet zu haben. Eine anwaltliche Vertretung oder gar eine Verteidigung … nein, da entsinne ich mich nicht.«
Joks knetete seine Hände und blickte fahrig zur Seite.
»Es waren die Zeiten und die Umstände«, sagte er dann zögerlich. »Verstehen Sie mich? Man ist gegen das System oder sucht sich seine Nische. Ich hätte nichts für Sie erreichen können. Das Gesetz sagte: beim dritten Mal Tentakelwacht oder Exekution. Was haben Sie da von mir erwartet?«
»Ein wenig mehr Einsatz. Auch ich weiß, dass selbst in der Diktatur der Sphäre nicht jeder Richter gleich ist … oder war. Es gab welche, die die Gesetze für zu hart hielten und sie interpretierten. Ein guter Anwalt hätte einem solchen Richter bei dieser Interpretation geholfen.«
Joks schüttelte den Kopf. »Das wäre gar nicht gut gegangen. Was wäre das Ergebnis gewesen? Sie wären eingerückt ins Straflager. Das überlebt keiner sehr lange. Die Tentakelwacht war in jedem Fall die bessere Alternative. Regelmäßige Mahlzeiten. Saubere Kleidung. Ein Dach über dem Kopf. Eine sinnvolle Aufgabe.«
Er machte eine ausbreitende Bewegung mit seinen Armen. »Sinnvoll, oder?«
»Sie sind hier nicht in Obhut der Tentakelwacht.«
»Das weiß ich wohl. Aber ohne die Existenz der Streitkräfte wäre ich nie so weit gekommen.«
Roby nickte. Der Punkt ging an den Anwalt. Völlig untalentiert im Argumentieren war er offensichtlich doch nicht.
»Also – sie gehen unter die Erde?«
Joks zuckte mit den Achseln.
»Ich habe ja wohl keine Alternative. Ich kann mich da unten nützlich machen.«
»Als Anwalt?« Roby kicherte unwillkürlich. Joks sah ihn ein wenig beleidigt an, war aber offenbar zu erschöpft, um sich allzu sehr darüber aufzuregen.
»Als Richter. Meine, äh, Examensnote entsprach damals nicht ganz den Mindestanforderungen, aber jetzt, in dieser Sondersituation …«
Roby schüttelte den Kopf. »Machen Sie sich nicht zu viele Hoffnungen. Haben Sie keine anderen Fähigkeiten?«
Joks legte seine hohe Stirn in Falten. »Ich bin Filmexperte. Spätes Mittelalter. Ich kann sogar alle Filmlaufzeiten auswendig.«
»Noch etwas … ich meine, etwas, das jemanden wirklich interessiert?«
Joks grübelte wirklich und Roby tat es fast leid, dass er diese Frage gestellt hatte. Dann jedoch hellte sich das Gesicht des Anwalts auf und er sagte: »Ich bin ein guter Bürokrat. Ich führe Liste und dokumentiere wie niemand sonst auf der Welt. Ich kann … eine Chronik. Ein Archiv. Eine Geschichte.«
Joks sah Roby mit heiligem Ernst an. »Ich werde die Geschichte der Menschen aufzeichnen, jedes Detail, jedes Ereignis … damit alle wissen, was wir da unten erduldet haben, als die Tentakel die Oberfläche beherrschten.«
Roby lag erneut eine hämische Bemerkung auf der Zunge, aber als er den ernsten und fast flehentlichen Ausdruck in den Augen des Anwalts sah, behielt er sie für sich. Warum sollte er das Messer in der Wunde umdrehen? Sie standen jetzt alle auf der gleichen Seite. Und wer wusste schon, ob Joks’ Idee wirklich so absurd war, wie sie sich jetzt anhörte? Und wer war er, darüber hier und jetzt zu urteilen?
Also nickte er
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