Terra Mater
Menschheit nur noch eine Frage der Zeit war, und beschlossen, Shari den Klang des Lebens zu lehren. Sie improvisierten eine Zeremonie vor dem funkelnden Dornbusch. Sie lehrt ihn das Antra – ein langes Vibrieren dem leisen Rauschen ähnlich, das dem Aufsteigen des Narren vorangegangen war. Der Klang entfesselte seine Feuerringe im Inneren Sharis mit derartiger Hitze, dass er glaubte, verbrennen zu müssen. Dann fand das Antra seinen Platz in seinem Geist und verstummte nahezu. Er hörte nur noch ein kaum wahrnehmbares friedliches Flüstern. Aphykit umarmte ihn.
Von nun an war Shari ein Shanyan, ein Eingeweihter, ein Erbe der langen Tradition der Inddikischen Wissenschaft.
Er brauchte nur zwei Tage, um die Kunst zu beherrschen, kraft seiner Gedanken reisen zu können. Rief er den Klang, befreite ihn dieser von allem überflüssigen Denken und trug ihn zu der Festung der Stille – dorthin, wo Geist und Materie eins sind, dorthin, wo Intentionen sich in der Form geistiger Wellen verbergen. Das Antra war der Solist im Chor der Schöpfung, ein klangvolles Bindeglied zwischen der Urenergie und dem Menschen.
Monatelang gab sich Shari mit an Trunkenheit grenzender Begeisterung seinen Entdeckungen hin. Er lernte, sich in den unendlichen Korridoren des Äthers zurechtzufinden und erforschte mit Aphykit und Tixu die Kontinente Terra Maters: Afrisien, Europ und Ameurynien … Trotz aller Erdbeben, Überschwemmungen, Aufstände und Kriege, die diesen Planeten verwüstet hatten, gab es immer noch Ruinen historischer Bauwerke und Überreste alter Städte, stumme Zeugen vergangener Zeiten.
Shari verbrachte Wochen vor dem Strauch des Narren. Ohne zu schlafen, zu essen oder zu trinken, verharrte er unbeweglich und blickte in Vergangenheit und Zukunft. Er suchte nach dem Weg, der ihn zu der Arche des Lichts führen würde, zu jenem geheimen Ort, wo die Inddikischen Annalen – das Gedächtnis der Menschheit – aufbewahrt wurden.
Aphykit und Tixu wachten über Shari. Auch sie hatten gegenüber dem Narren der Berge ein schlechtes Gewissen. Lange Zeit waren sie nur mit sich und ihrer Liebe beschäftigt gewesen, sodass sie die Dringlichkeit unterschätzt hatten. Während sie einander entdeckten, dehnten die Scaythen von Hyponeros Macht und Einfluss über die von Menschen
bewohnten Planeten immer weiter aus. Doch wie bei Shari waren auch bei ihnen diese Zeiten jetzt vorbei. Sie saßen in der Nähe des Strauchs mit aneinandergelegten Händen sich gegenüber und durchforschten das Antra auf der Suche nach Zeichen und Hinweisen, die ihrem jungen Schützling auf seinem Weg helfen könnten. Zwei Jahre verbrachten sie so. Sie ernährten sich von Früchten, Körnern, Wurzeln und badeten im nahe gelegenen Fluss.
Manchmal überraschte Shari sie nackt und eng umschlungen im Gras am Ufer. Er hörte ihr Lachen, Seufzen und Stöhnen, und er begriff, dass die Liebe – die Liebe die ihm im Alter von sieben Jahren auf brutale Weise genommen wurde – die schönste Gabe des Menschen ist. Und obwohl er sich über das Glück seiner Adoptiveltern freute, fühlte er einen Stich im Herzen. Denn er fürchtete, dass ihn sein Schicksal bis ans Ende seines Lebens zur Einsamkeit verdammt hatte. So wie den Narren der Berge, diesen Mann – war er wirklich ein Mann? –, der mehr als fünfzehntausend Jahre in der eisigen Abgeschiedenheit der Hymlyas gelebt hatte.
Als Shari fünfzehn wurde, kamen die ersten Pilger auf den ameurynischen Kontinent, der mehrere Tausend Kilometer vom Hymlyas-Gebirge entfernt lag. Aphykit und Tixu, stets wachsam, entdeckten sofort deren Anwesenheit: Ihre lauten, unkultivierten Resonanzwellen beleidigten die Stille der antrischen Felder. Obwohl Aphykit und Tixu die Methoden der Scaythen verabscheuten, konnten sie es sich nicht erlauben, eine Vorsichtsmaßnahme außer Acht zu lassen, und sie durchforschten den Geist der vier Besucher, einem Mädchen und drei Jungen. Ihre Absichten waren rein; Sie stammten aus Spain und hatten hart gearbeitet, um den heimlichen Transfer bezahlen zu können. Sie glaubten an
die Legende von Naïa Phykit und Sri Lumpa und waren gekommen, sich ihren Lebenstraum zu erfüllen.
Aphykit und Tixu rematerialisierten sich vor den vier Spainiern inmitten einer mit hohem Gras bestandenen weiten Ebene, über die ein heißer, trockener Wind wehte. Die jungen Leute waren derart aufgewühlt, dass sie außerstande waren, zu sprechen. Sie knieten sich tränenüberströmt vor die beiden.
Am nächsten Tag
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