Terra Mater
dass sie abrupt erwachte, sich aufsetzte und die Arme nach ihm ausstreckte. Aber sie umarmte jedesmal nur die Leere. Sie sank auf ihr Lager zurück, und es überfiel sie ein so unendliches Gefühl der Einsamkeit, dass sie glaubte, daran ersticken zu müssen. An Schlaf war nicht mehr zu denken.
Oniki musste erst schlafen, ehe er sie in ihrer Grotte besuchen konnte. Er hatte sich dreitausend Kilometer von Pzalion entfernt, in einer dunklen Ödnis, die die Ephrenier nie erkundet hatten, niedergelassen.
An den Atemzügen der jungen Frau erkannte er, wann sie schlief, und vermied es, ihr im Wachzustand zu begegnen, denn er hatte in ihrem Gehirn die kalten Ströme eines Inquisitors festgestellt, der Oniki von einer ein paar Kilometer entfernten Aquakugel aus überwachte. Deshalb hatte er es so eingerichtet, dass der Scaythe seine Besuche als Träume interpretierte.
Hatte sie den Zustand des Tiefschlafs erreicht, begab er sich kraft seiner Gedanken in die Grotte. Im Schein der
Licht-Kugeln wachte er stundenlang über sie, betrachtete sie voller Zärtlichkeit und sah, wie ihr Bauch mit jedem Tag dicker wurde.
Von nun an war sie Stärke und Schwäche für ihn. Seine Stärke, weil sie ihn mit neuem Lebensmut erfüllte, seine Schwäche, weil er sich für sie und das Kind verantwortlich fühlte. Und diese Tatsache hatte ein unzerreißbares Band zwischen ihnen geschaffen, mit Pflichten und Widersprüchen. Beim geringsten Zeichen des Erwachens verschwand er, jedes Mal unendlich traurig, weil er sie nicht umarmen und trösten konnte.
Dieses unablässige Versteckspiel mit dem Inquisitor war ihm lästig und erschien ihm absurd, aber es war die einzige Möglichkeit, Oniki und das Kind vor den Scaythen von Hyponeros zu schützen. Denn sie bedienten sich ihrer als Köder. Vor sechs Monaten hätten sie fast ihr Ziel erreicht. Wären die Pritiv-Söldner in dem Augenblick in die Zelle eingedrungen, als sie sich liebten, wären sie beide getötet worden. Und mit seinem Tod hätte das Hyponeriarchat endgültig die Weitergabe der Inddikischen Wissenschaften von Meister zu Meister zerstört.
So hatte er das Gefühl, ein aus Liebe Verbannter geworden zu sein, ein Dieb, der Intimitäten stahl. Seinetwegen war Oniki wie eine Kriminelle behandelt worden …
Brachte er nichts als Unglück? War er dazu verdammt, überall zu scheitern?
Sein Lehrer, der Narr der Berge, hatte ihn zu früh verlassen. Nichts hatte sein Verschwinden an jenem lauen Frühlingsabend voller Blumenduft und Vogelsang ahnen lassen. Vor der untergehenden Sonne zeichnete sich scharf die gezackte Gebirgskette der Hymlyas ab, als plötzlich ein heller Lichtstrahl vom Himmel gefallen war.
»Und jetzt ist es an dir zu bestimmen, ob die Menschen des Lebens würdig sind …«, hatte der Narr erklärt, ehe er sich in den röhrenartigen Strahl gestellt hatte.
Dem damals zwölfjährigen Shari war plötzlich bewusst geworden, dass die Stunde der Trennung gekommen war, noch ehe er mit seiner Ausbildung zu einem Krieger der Stille begonnen hatte. Aphykit und Tixu, seine Adoptiveltern, waren bereits vor Monaten aufgebrochen, um Terra Mater, die Wiege der Menschheit, zu erforschen; laut dem Narren hingegen, um völlig ungestört ihre Liebe zu erforschen. »Aber wie soll ich das denn wissen?«, hatte Shari gemurmelt, mit Tränen in den Augen.
»Die Antwort liegt in dir.«
»Du hast mich nichts gelehrt! Bleib bei mir …«
»Du hattest keine Lust zum Lernen, und meine Zeit hier ist vorüber, Shari Rampouline. Man ruft mich, andere Aufgaben zu erledigen … Einen gesprungenen Krug kann man nicht füllen«, hatte der Narr mit unendlicher Traurigkeit in der Stimme gesagt.
Und da hatte sich Shari erinnert, dass er lieber auf seinem Stein durch die Lüfte geflogen war, im Fluss gebadet und sich von der Sonne hatte trocknen lassen, mit den Aïoulen gespielt hatte, als sich vom Narren der Berge unterrichten zu lassen. Seine Unbekümmertheit und wohl auch die unbewusste Furcht, sein Schicksal erfüllen zu müssen, hatten ihn dazu getrieben, sich der Initiation des Antra zu verwehren.
»Bleib! Ich verspreche dir, alles nachzuholen!«
»Das wirst du ohne mich tun«, hatte der Narr leise gesagt. »Meine Aufgabe bestand darin, dich auf deine letzte Prüfung vorzubereiten, doch gleichermaßen musste ich deinen freien Willen respektieren. Du bist das letzte Glied in der
Kette der Indda. Jetzt hast du die Wahl, ob du nur das Spiegelbild des kollektiven Gedächtnisses der Menschheit
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