Terra Mater
einen kleinen Bruder.
Rein zufällig entdeckte er eines Tages den Anfang des Weges. Wie gewöhnlich saß er auf einem vom ewigen Schnee
bedeckten Berghang und spürte die angenehme Wärme der Frühlingssonne auf seiner Haut. Ein schwarzer Aïoule ließ sich ein paar Meter von ihm entfernt nieder. Seit geraumer Zeit trieb Shari ziellos auf den Strömen seiner inneren Energie; er war ermattet und völlig entspannt.
Plötzlich sah er in seinem Innern eine hell leuchtende Tür. Sie zog ihn an. Als er die Schwelle überschritten hatte, befand er sich auf einem schmalen leuchtenden Pfad, der von einer derart undurchdringlichen Finsternis gesäumt war, dass sie einer Mauer glich. Eisige Klingen durchdrangen ihn, zerstückelten ihn, schienen den Kern seines Wesens zu zerstören. Doch er sah sich nicht dem Tod gegenüber, dem Verlassen der leiblichen Hülle, sondern etwas Entsetzlichem, dem Nicht-Leben, der absoluten Leere verwandt.
Und er kämpfte verzweifelt gegen den Impuls, umzukehren.
Das Nichts, die In-Creatur, glaubte, das Schwierigste vollbracht zu haben: Auf allen bewohnten Planeten waren ihre Getreuen am Werk, sie löschten das Gedächtnis der Menschheit aus. Der Narr der Berge hatte sich nach fünfzehntausendjähriger Wache in ein anderes Universum begeben … Alles war für die Machtergreifung des Formlosen bereit!
Doch nun war es einem Menschen gelungen, den Pfad zu betreten, der zu der Arche des Lichts führt. Und dieser Mensch könnte – bliebe er beharrlich – die Seinen wieder zu Herrschern machen!
Seit Abertausend Jahren bekämpfte die In-Creatur die Menschheit, verfälschte die Worte der wahren Propheten, säte Verzweiflung und Tod … Doch bisher immer vergeblich. Ohnmächtig hatte sie zusehen müssen, wie sich die Menschheit trotzdem ausbreitete, ja manchmal sogar aufblühte.
Und jetzt, wo sie die Früchte ihrer unendlich langen Arbeit geduldiger Zerstörung endlich genießen könnte, kam dieser Mensch und suchte nach seinem Ursprung.
Shari sah in der Ferne ein herrliches Gebäude aus Licht, einen Tempel mit sieben Säulen und Wänden mit bunten, unvergleichlich schönen Fenstern: die Arche, den geheimen Ort, wo die Inddikischen Annalen, das Gedächtnis der Menschheit, die unabänderlichen Gesetze der Schöpfung aufbewahrt wurden …
Shari war überwältigt. Er beeilte sich, denn die Attacken der In-Creatur wurden so heftig, dass er sie kaum noch ertragen konnte. Er hatte das seltsame Gefühl, dass sich die Arche immer weiter entfernte, je schneller er voranschritt.
Das Formlose konnte die Ur-Menschen nicht mit seinen Waffen besiegen, aber es konnte die Schwachstellen einzelner Menschen angreifen. Also drang es gierig in Sharis Geist ein, grub vergessene Erinnerungen aus, vergrößerte Zweifel und stimulierte Ängste. Und Sharis Persönlichkeit spaltete sich in einzelne, voneinander getrennte Wesenszüge auf, die miteinander in Konflikt gerieten. Hass und Entsetzen gewannen in ihm die Überhand. Umrisse verschwammen, und der Pfad der Arche verblasste. Er wurde von Schwindelgefühlen überwältigt und spürte einen eiskalten Stich im Herzen. Dann verlor er das Bewusstsein.
Auf einem verlassenen, dunklen Planeten war er inmitten von Packeis wieder erwacht. Sein Versagen hatte ihn derart deprimiert, dass er nicht einmal versucht hatte, wieder auf Terra Mater zu gelangen. Seine Schüler hatten ihn in den Rang eines Mahdis erhoben. Er konnte sie nicht mit seinem
Scheitern konfrontieren; erst nach dem Bestehen seiner Prüfung würde er ihnen wieder gegenübertreten.
Da die Vibrationen des Antra sich in ihm nicht mehr manifestierten, hatte er tagelang halb verhungert und vor Kälte halb erstarrt durch die eisige Wüste marschieren müssen. Er hatte Eisbrocken gelutscht, um nicht zu verdursten. Schließlich war er in einer Höhle, die durch eine Schwefelquelle erwärmt wurde, untergekommen. Die Wände der Höhle waren ständig leicht in Bewegung und schwitzten eine sirupartige Masse aus, die sich als essbar herausstellte. Die meiste Zeit schlief er, sein Körper schien die langen durchwachten Nächte zuvor nachzuholen.
Seine Gedanken kreisten unaufhörlich um seine Schüler und die Enttäuschung, die er diesen nach der Wahrheit suchenden Menschen zugefügt haben musste. Manchmal spielte er mit dem Gedanken, sich dem Tod hinzugeben, aber das Bild Aphykits und Tixus vor seinem geistigen Auge hielten ihn davon ab, auch wenn ihm eine dunkle Vorahnung sagte, er werde sie niemals
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