Terroir
Welten, zwischen oberflächlicher Struktur und innerem Chaos, wie viel genussvoller ist das Abtauchen in geheimnisvolle und unbekannte Tiefen der Wahrnehmung.
Beim Sinnieren über einem Glas guten Weins entsteht manchmal das Gefühl, er würde sich bedanken. Nicht weil er aladinmäßig aus der Flasche befreit wurde, sondern weil man ihn so schonend vinifiziert hat, dass er noch Geschichten erzählen kann: von seinem Weinberg, von der Hitze des Sommers, den kühlen Nächten des Herbstes und von den Visionen des Winzers. Ganz so wie in dem Kinderbuch Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer von Michael Ende, wenn die hundertjährige Drachenfrau nach ihrem Verwandlungsschlaf raunt: „Leider werden wir meistens umgebracht. Aber wenn das nicht der Fall ist, dann geschieht etwas Wunderbares. Wir wissen alle Geheimnisse.“
Der Genuss eines komplexen Weins ist ein Balanceakt an der Grenze der Wahrnehmung, ist ein faszinierendes Erlebnis zwischen Wachheit und Rausch, ist eine Reise in die spannende Welt zwischen Ordnung und Chaos. Oder mit den Worten von Albert Einstein in seinem Glaubensbekenntnis : „Das Schönste und Tiefste, was der Mensch erleben kann, ist das Gefühl des Geheimnisvollen.“
Terroirwein schmeckt nicht nur, er verunsichert auch. Und er lädt ein zum Perspektivwechsel. Aber wie weit kann der Winzer gehen? Und: Muss der Wein eigentlich schmecken? Ist ein schwefelfreier, weitgehend oxidierter und von Aromen der Brettanomyces bruxellensis geprägter Wein verdorben? Ist er ein geheimnisvoller Terroirwein? Oder ist er beides?
Soigns-en-Sologne liegt weit außerhalb der offiziellen Appellationen der Loire. Hier bewirtschaftet Claude Courtois einen kleinen Bauernhof mit Schweinen, Hühnern, Kartoffeln, Gemüse – und vier Hektar Reben mitten im Wald, am Flussufer, zwischen Obstbäumen und Wiesen. Es ist ganz schön kalt in Soigns-en-Sologne, daher erntet Claude seine Trauben drei bis vier Wochen später als seine Kollegen ein paar Dörfer weiter. Nicht schlecht für die Aromensynthese. Seine Vinifikation beschreibt er als à l’ancienne . Das heißt, wenn er Probleme hat und nicht mehr weiterweiß, meditiert er und nimmt Kontakt mit seinen Vorfahren auf, um sie zu fragen, was zu tun ist. Zum Schwefel haben sie ihm noch nie geraten. Entsprechend verstört reagiert der unvorbereitete Gaumen zunächst, wenn sich die Aromen der Weine mit den wunderschönen Namen wie Stein des Paradieses, Engelsfeder oder Alchimie entfalten. Aber beim zweiten Schluck, beim dritten … „Man sieht, es ist im Grunde die alte Klage, dass die Massen Zerstreuung suchen, die Kunst aber vom Betrachter Sammlung verlangt“, schrieb Walter Benjamin in seinem berühmten Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit .
Ganz anders die Auslesen aus der Wehlener Sonnenuhr, vinifiziert von der Familie J. J. Prüm aus Wehlen an der Mosel. Hier gibt es nur dann Diskussionen, wenn man einen entscheidenden Fehler macht: nämlich den, die Flaschen zu früh zu öffnen. Dann sind sie oft von unangenehmen Aromen geprägt. Sie schmecken zwar auch, aber nicht in Relation zu ihrem Preis. Der ist für deutsche Verhältnisse hoch, im internationalen Maßstab eher moderat. Was darf denn ein Wein kosten, der nach zehn Jahren anfängt, so richtig gut zu schmecken, und dann zwanzig, dreißig, fünfzig Jahre lang die Sinne mit einem feinsten Spiel aus ziseliertem Schiefer verzaubert? Diese Weine beglücken wie die Musik von Mozart:
… die Concerten sind eben das Mittelding zwischen zu schwer, und zu leicht – sind sehr Brillant – angenehm in die ohren – Natürlich, ohne in das leere zu fallen – hie und da – können auch kenner allein satisfaction erhalten – doch so – daß die nicht-kenner damit zufrieden seyn müssen, ohne zu wissen warum.
So weit Mozart in seiner eigenwilligen Orthografie über drei seiner Klavierkonzerte in einem Brief vom 28 . Dezember 1782 an seinen Vater.
Einen Wein vinifizieren, der den Kenner zufriedenstellt und den Novizen verzaubernd an die Hand nimmt – ein Traum. Und Praxis im Weingut J. J. Prüm seit Generationen. Im Weinberg als Diener, im Keller als Begleiter. Ganz unspektakulär. Ohne bio, ohne biodyn. Einfach nur Wein, einfach nur gut. Aber süß! Ja, auch das noch. Die Weine sind süß. Schmecken sie denn auch süß? Jeder, der einmal einen gereiften Wein von Schieferböden aus dem Keller eines guten Winzer getrunken hat, weiß, dass man beim Genuss eines solchen Weines an alles
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